Autor Thema: Das Kryptorium  (Gelesen 4686 mal)

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Offline Zitatus

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Das Kryptorium
« am: 26 July 2016, 07:40:35 »
Liebe Rösties,

der nachfolgende Text ist schon etwas älter; kommt vielleicht zu meinen Pandora-Texten, wenn er inhaltlich verständlich ist. Der Film "Das 7. Zeichen" hat mich zu der Story inspiriert. Die Wortschöpfung "Kryptorium" hatte ich vor Urzeiten mal im FF abklopfen lassen. Ich hoffe, sie passt zur Story.

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Das Kryptorium

Die Halle ward in gleißendes Licht getaucht. Unendliche Säulenreihen trugen den gläsernen Dachstuhl, hinter dem die Sonnen schliefen. Der Kosmos verharrte im ersten Moment der Ewigkeit. Hier waren sie vereint, drängten sich aneinander, hielten sich, und warteten in der Stille des Augenblicks ...

„Du.“ Der Wächter der Halle wandte sich ihr zu. „Du wirst Zoe heißen.“
„Ich bekomme einen Namen geschenkt?“
Der Wächter nickte. „Er steht geschrieben. Schon immer.“
Er griff nach ihr und führte sie fort von den anderen zu einem hellen Steinblock. Darin eingelassen ruhte ein silbernes Becken, gefüllt mit dem Wasser, in dem sich die andere Welt spiegelte. Auf den kleinen Wellen schimmerten zunächst Buchstaben. Rätselhaft und nichtssagend trieben sie dahin. Daraus entstanden Bilder von Männern, Frauen, Kindern. Sie bedeuteten Zoe noch nichts. „Sieh in das Kryptorium.“ Der Wächter lächelte. „Sieh, was dich erwartet. Dort wirst Du alles gegeben bekommen. Du wirst erfüllt werden. Du wirst erfahren. Du wirst zu Erkenntnis gelangen.“
Zoe verstand nicht, was der Wächter ihr anbot. „Ich kann nicht hier bleiben?“
„Du darfst wiederkommen.“
Das war tröstlich.

Die Farben um sie herum änderten sich plötzlich. Alles verwandelte sich in ein undurchdringliches Rot. Enge umschloss sie. Stampfende Geräusche lärmten auf sie ein.
Etwas zog und zerrte an ihr. Dann wurde es wieder hell und sie schien durch gnadenlose Kälte zu wirbeln.
Zoe schrie!
Dann hörte sie Worte, deren Bedeutung sie nicht verstand: „2950 Gramm. 50 Zentimeter. Alles dran. Sieht süß aus, die Kleine.“
  • Ich schreibe gerade: Daimonia - Normseite 83 von 300 - Das Handlettering Projekt - Seite 8 von 100

Offline Ayira

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Re: Das Kryptorium
« Antwort #1 am: 26 July 2016, 11:45:31 »
Hallo Zitatus!

Ich verstehe den Text - und ab ".... undurchdringliches Rot" hatte ich das Bild eines Babys im Mutterleib im Kopf. Es liest sich interessant und die Sprache auch gut gewählt - mein Hauptproblem ist hier aber die Kürze. Mir kommt es blass vor - erst recht in Bezug auf die Geburt. Das erste, was mir einfiel, war nämlich, wie viele Babys eigentlich tagtäglich mehr oder weniger gleichzeitig geboren werden. Auf die ganze Weltkugel gerechnet. Bei Zoe habe ich das Gefühl, sie steht da allein bzw. wird als einzige von den anderen Sonnen weggeholt. Mir fehlt also noch die Erwähnung von anderen Sonnen, die sich um Zoe drängeln - ehe der Wächter sie von den anderen wegfischt.
Das waren so meine Eindrücke.

Bei meinem kleinen Cousin, der vor einem halben Jahr auf die Welt kam, hatte meine Oma ein paar Tage vor seiner Geburt den Traum, wie er "geschlüpft" ist. Und dass er so viel zu erzählen hatte und losgeplappert hat, um uns davon zu berichten, was er alles gesehen und erlebt hat - aber alles, was über seine Lippen kam, war nur Gebrabbel. Das hat ihn so richtig geärgert. Immer und immer wieder hat er es probiert, aber es wollte nicht klappen. Dann ist sie leider aufgewacht.  :cheese: Aber vielleicht hilft dir diese Anregung. Bzw. vielleicht ist für mich deshalb die Geschichte etwas blass, weil ich die Vorstellung meiner Oma im Kopf habe.  :dops:
  • Ich schreibe gerade: Neseret - Atem des Feuergottes

Offline eska

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Re: Das Kryptorium
« Antwort #2 am: 27 July 2016, 22:35:59 »
Hi Zitatus!

Sieht so aus, als müsse ich mich mal wieder aus dem Fenster lehnen...  :teufel:

Zu deinen angedeuteten Anfragen:
1. Der Text ist verständlich. Alles Gezeigte ist geheimnisvoll und erschließt sich einem nicht unbedingt in seinem Zweck (also, wieso ein gläserner Dachstuhl, wieso überhaupt ein Dach, ein Gebäude, wer sind 'sie', menschlich oder 'anders', usw.), aber das Bild stimmt. Den Film kenne ich nicht, habe also keinen Vergleich.

2. Der Titel: Krypto- als Vorsilbe suggeriert bei mir Geheimnis, Verstecktes, Verschlüsseltes. Das passt also gut. Kryptorium ist eine Form von Skriptorium? Da wird also etwas festgeschrieben. Geschichte? Schicksale? Haben die Buchstaben, die sich in Menschen wandeln, damit zu tun? Die geheime Schreibstube. Hm. Das klingt jetzt mehr nach der Figurenschmiede in unseren Köpfen. War das so gemeint, nicht Menschen werden geboren, so habe ich das bis eben verstanden, sondern Figuren entspringen dem Becken der Phantasie? Wieso dürfen die dann wieder zurück?
Ansonsten fand ich das einen sehr anrührenden Satz; nicht nur tröstlich das Phänomen Tod beschreibend, sondern die typische menschliche Sehnsucht aufgreifend nach unangestrengter Harmonie und Gemeinschaft. Die Vertreibung aus dem Paradies rückgängig gemacht für jeden Einzelnen.  :applaus:

3. Ansonsten habe ich ein paar Anmerkungen:
- Ich bin nicht so sicher, ob das noch als logisch durchgeht, dass Zoe und die anderen in der Ewigkeit warten und dennoch aktiv sich aneinander drängen, sich halten ... Mich hat es eigentlich nicht gestört, erst beim Nachdenken kam das.

- Das 'ward' im ersten Satz stößt mir jedes Mal auf. Mich drängt es zu 'war in gleißendes Licht getaucht', aber du willst ja wohl eine Zäsur beschreiben, den Anfang von Zoes Werden, und da wird es eben Licht. Nur: Was war vorher? Und nachher? Gibt es ein Vor- und Nachher in dieser Ewigkeit? Gibt es einen Handelnden oder ein Handelndes als Ursprung des Lichts? (Mit dem jüdisch-christlichen Schöpfungsbericht im Kopf muss das hier jeder fragen.) Und was ist mit 'den anderen' - wie Ayira schreibt, werden ja fortlaufend Menschen geboren.

- das Geschenk eines Namens: schön. Aber auch beängstigend, aus der Menge aller herausgelöst und als Einzelwesen benannt zu werden, oder? Zoe staunt nur, vermisst noch nicht, erwartet auch nichts.

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Zitat
Er steht geschrieben, schon immer.
Das lässt sofort 'im Buch des Lebens' anklingen, und damit alle Ideen von Vorbestimmung usw., die daran hängen. Damit lese ich deinen Text nur noch als Interpretation eines Altbekannten. Wie du das vermeiden kannst, weiß ich gerade nicht, sorry.

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Zitat
Sie bedeuteten Zoe noch nichts.
Noch nichts nimmt zuviel voraus.

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Zitat
Dort wirst Du alles gegeben bekommen.

Besser: Dort wird dir alles gegeben (auch wieder sehr biblisch), oder wirst du alles bekommen. Aber brauchst du den Satz eigentlich? Es folgen ja drei Konkretisierungen.

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Zitat
Zoe verstand nicht, was der Wächter ihr anbot.
Hat sie denn eine Wahl? Sie erscheint durchweg passiv. Spannend wäre es ja, wenn sie einen Wunsch gehabt hätte oder es einen Wunsch gegeben hätte, der der Ursprung ist (wann? Das Zeitkonzept von Abfolgen in der Ewigkeit verwirrt mich). So wie : Sie wollen dich. Du wolltest/willst sie. Das Leben will mit dir leben, tanzen... Wieder: Wer trifft hier die Entscheidung? Gibt es einen Gott, ein Schicksal, den Sog der Lebenden nach mehr Leben, Seelen (oder ein ähnliches Konzept), die auf eine Geburt, eine Verwirklichung warten, sich vielleicht sogar sehnen?
Darin fühlt es sich an, als seist du dir nicht ganz klar. Oder du bewahrst nur das Geheimnis.  :cheerful:

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Zitat
Dann hörte sie Worte
...
Zwei Satzanfänge mit dann. Vielleicht einfach weglassen?

Soweit mein Senf für heute abend. Guten Appetit!

eska  :wink:
  • Ich schreibe gerade: mal wieder kaum. Feinschliff Lethbridge ist dran. Diverses liegt wieder auf Eis.

Wave

  • Gast
Re: Das Kryptorium
« Antwort #3 am: 09 September 2016, 12:29:22 »
Hi, Zitatus,

keine Röstung, allerdings ein kleines Kaleidoskop von Impressionen zu Deinem Text, der mir nach und nach mehr und mehr zu denken und zu  fühlen gegeben hat. Mal sehen, wie weit ich allein auf weiter Strecke liege ;D

Du schreibst, der Film "Das 7. Zeichen" hat Dich zu dieser Story inspiriert.
Ich habe den Film vor vielen Jahren gesehen und Dein erster Abschnitt erinnerte mich an die sogenannte guf oder guph (hab' extra bei Wiki nachgeschaut; ich hätte es sonst geschrieben wie gesprochen: Gaff,  wobei mir diese Schreibweise sympathischer ist ;D, aber das nur am Rande), also an die "Halle der Seelen". Und in Deiner Geschichte ist die Halle noch voll.

Eine Halle der Seelen, der reinen puren Leuchtkraft ursprünglichsten Lebens,  wertfrei, weil keine Bewusstheit von Wertung, urteilsfrei, weil keine Bewusstheit von Beurteilung.

Seiendes, ruhendes Leben im Gegensatz zur Dynamik unserer Welt aus Milliarden von Einzelheiten und Funktionen.
Die also noch nicht funktionale Lebenskraft, eher eine Einheit aus zwar vielen, aber dennoch nicht von einander getrennten, eigenständigen Individuen wie in unserer physischen Welt.

Hast Du den Namen "Zoe" mit Bedacht gewählt oder kam er einfach so zu Dir und in die Geschichte? Beides ist hier gleichermaßen bemerkenswert.
(ich musste einfach nachschauen, ob dieser Name auch das Prinzip des Lebens oder die Lebensidee an sich o. Ä. beinhaltet, und wie habe ich gestaunt bei dem, was ich entdeckte)

Denn die Bedeutung von Zoe lautet:
 
[...] ... die einfache Tatsache des Lebens, welche allen Lebewesen gemein ist“ (also Pflanzen, Tieren, Menschen und Göttern). [...]

Wikipedia

Für mich spiegelt sich hier in Zoe meine obige Schilderung wider, kurz – und philosophisch völlig unbedarft :blush: (bei Wikipedia steht selbstverständlich wesentlich mehr dazu) - ausgedrückt: eben alles, was Leben ist, und in der Geschichte herrscht eben die "Tatsache des Lebens" zum einen in der Halle der Seelen, zum anderen in der physischen Welt.

Sicher, es werden noch weitere nach Zoe kommen und zuvor sind sicher auch schon welche gegangen. Aber erstens handelt die Geschichte nicht von diesen, sondern von Zoe, und ich kann Zoe eben nicht nur als Figur, sondern auch als Prinzip begreifen.

Und dies hier:

Zitat
[...]Dort wirst Du alles gegeben bekommen. Du wirst erfüllt werden. Du wirst erfahren. Du wirst zu Erkenntnis gelangen.“[...]

kann ich so auffassen, dass eben die ruhend-seiende Lebenskraft Impulse benötigt, um sich voll entfalten, sich voll verwirklichen zu können.

Das Leben oder die Lebenskraft kann nicht einfach nur bis in alle Ewigkeit in der Halle Vor-Sich-Hin-Sein, das bisher noch ruhende Prinzip des Lebens muss selbst erfüllt werden mit Bewegung, Geschehen, Dynamik, um ... um vollständig das zu sein, was es ist.

Oi, wahrscheinlich häng ich längst meilenweit aus dem Fenster ;D, aber jedenfalls hat mir Deine Geschichte zu einigen sehr interessanten und bereichernden Gedankengängen verholfen. Danke dafür! :cheerful:

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Aber auch so ist es eine hübsche Geschichte, die Dinge aus einer Perspektive einer anderen Seite des Lebens beleuchtet und das auf eine, wie eska schon schrieb, tröstliche Weise.

Ach, eine Kleinigkeit noch:

Zitat
Die Halle ward in gleißendes Licht getaucht. Unendliche Säulenreihen trugen den gläsernen Dachstuhl, hinter dem die Sonnen schliefen. Der Kosmos verharrte im ersten Moment der Ewigkeit. Hier waren sie vereint, drängten sich aneinander, hielten sich, und warteten in der Stille des Augenblicks ...

Generell vermittelt mir dieser Abschnitt eine gewisse Abgehobenheit, jenseits (tatsächlich ;D) aller weltlichen Beeinflussbarkeit, nur eben dieses "drängten sich aneinander" wirkt auf mich störend, da sich mir hier wiederum der Eindruck von Unsicherheit oder Ängstlichkeit aufdrängt.
Und ich glaube, vor dem "und" kommt kein Komma hin.

So, das war's aber jetzt.

Liebe Grüße  :kaffee2:

Wave

Thot Grubenbauer

  • Gast
Re: Das Kryptorium
« Antwort #4 am: 22 December 2016, 10:04:30 »
Ich mag das Geheimnisvolle, das Andeutungsvolle. Nicht alles wissen. Von daher lese ich den Text so. Ich bin bei einer Geburt dabei. Bevor es so weit ist, unterhält sich Zoe mit dem Wächter, sie reden geheimnisvoll. Wie geht es also weiter, was erwartet Zoe auf der Welt? Ok, Neugierde geweckt.
Da der Text sehr kurz gehalten ist, erfahre ich nicht mehr darüber, wie es weitergeht. Der Text ist als ein Blitzlicht, es erhellt nur kurz meine Aufmerksamkeit.

Ich sehe in einem solchen Text Chance und Gefahr zu gleich. Er ist so dicht geschrieben, mit vielen Andeutungen, deren Bedeutung zunächst nicht offensichtlich sind. Der Leser muss warten, bis später vielleicht alles erklärt wird, oder er muss raten, wie es gemeint sein könnte. Da mag dann wohl jeder Leser zu einem anderen Schluss kommen.

"....hinter dem die Sonnen schliefen" ---> lange darüber nachgedacht, kein Bild nur eine schöne Formulierung
".... verharrten im ersten Moment der Ewigkeit" --> für mich der Urknall, der erste Moment, in dem alles entstand.
".... Stille des Augenblicks" ---> sicherlich schöne Formulierung, weil es passt ja zu der gleich folgenden Geburt, die nicht still ist.

Letztlich sind das nur Beispiele, wo ich raten muss, wie ich es verstehen will, mag ich ja.
Dieses Rätselhafte zieht sich durch den gesamten Text. Sehr schön. Ist ja nur eine Textprobe. Am Ende möchte ich aber mehr erfahren als Leser


Eine Frage.

- Hast du bewusst ein Erzählperspektive gewählt? Ich würde darauf tippen, gerade wegen des letzten Satzes, du möchtest auktorial erzählen. "Dann hörte sie Worte, deren Bedeutung sie nicht verstand" Möchtest du auktorial erzählen, oder nur in dieser Szene?

Einzelbeobachtungen

„Du.“ Der Wächter der Halle wandte sich ihr zu. „Du wirst Zoe heißen.“

Wohl eine Kleinigkeit. Ich lese den Satz so, dass der Wächter sie zunächst anspricht, ohne sie anzublicken. Sich dann umdreht, und dann den Satz aufgreift und fortsetzt. So gemeint?


Dort wirst Du alles gegeben bekommen

Mehrfach den Satz gelesen, er will sich mir einfach nicht erschließen. Sorry. Immer wenn ich über den Text lese, dann stocke ich dort.



Unendliche Säulenreihen trugen den gläsernen Dachstuhl

Ich bin kein Freund von unbestimmten Zahlenangaben, erst recht nicht in einer Kurzgeschichte. "Unendlich", ja es schwingt die Unendlichkeit mit, aber ich will mir nur vorstellen, viele, viele, viele Säulen. Mag ich nicht, sorry.

Er griff nach ihr und führte sie fort von den anderen

Da die Szene ja mit der Geburt endet, frage auch ich mich, wer sind die anderen. Wird dieses Rätsel jemals aufgelöst, wenn ja, ok, wenn nein, wirkt es irritierend. Nein, ich habe das 7. Zeichen nicht gesehen. Will ich auch nicht, um etwas zu verstehen, will ich nicht wie in meinem Studium Sekundärrecherche betreiben :)


Die Farben um sie herum änderten sich plötzlich

"Um sie herum" könntest du streichen, bringt keinen informativen Mehrwert, da der Leser ja erwartet, dass wir mit ihren Augen sehen sollen.

Weiterhin viel Freude beim Schreiben.