Hallo liebe, Teufels!
Ich habe etwas Neues für den Grill. Vielleicht erinnert sich der/die Eine oder Andere an eine alte Version, die ich nicht überarbeitet, sondern komplett neu geschrieben habe.
Mir geht es - wie schon bei Pietà - nicht darum, ob die Geschichte "funktioniert". "Funktionieren" bedeutet ja, dass etwas, das der Autor ausdrücken will, auch tatsächlich beim Leser ankommt. Mir geht es darum, ob Euch die Geschichte anspricht. Wenn nicht - dann nicht. Wenn ja - dann würde mich interessieren, was Ihr darin/daran findet.
Es sind aber auch alle anderen Anmerkungen willkommen!
Danke für Euer Feedback!

nus
Wandertag
Verdammtes Miststück - die höchste Auszeichnung. Außer Mimi dürfen sich bislang nur Irina und Deli Verdammte Miststücke nennen. Es gibt noch zwei Anwärterinnen auf diesen Titel in der Klasse: die Milberg-Zwillinge. Aber ob sie es jemals schaffen werden, ist nicht sicher. Die pechschwarzen Pferdeschwänze der beiden wippen direkt vor Mimi im Takt ihres Gleichschritts. Die Zwillinge machen alles zusammen. Wenn sie es überhaupt schaffen, dann müssen sie sich wahrscheinlich einen Titel teilen.
Mimi drückt den Rücken durch. Heute wird sie beweisen, dass sie Carlas Gunst verdient hat. Vielleicht sogar mehr als das. Mit ihrem Plan hat sie Carla beeindruckt. Wenn sie ihn jetzt in die Tat umsetzt, dann wird sie nicht nur die Anführerin, sondern alle beeindrucken.
Sassmann ist am Morgen mit ihnen losmarschiert, und außer dem ständig verheulten Timmi, der angeblich Fieber hat – mitten im Sommer! – ist die ganze Klasse angetreten. Die Sonne brennt, während sie über den langen, schnurgeraden Feldweg marschieren, und Sassmanns Glatze glänzt wie poliert.
Carla hat sich heute die neongelbe Basecap von ihrem großen Bruder ausgeliehen. Mimi könnte sterben vor Neid, nicht nur wegen der Kappe, sondern noch mehr, weil sie auch gern einen großen Bruder hätte. Aber daran will sie jetzt nicht denken. Carla stößt sie mit dem Ellbogen in die Seite, und sie lachen sich tot über Sassmanns plattfüßigen Gang und über die Faxen der Jungs. Mimi sieht zu den anderen Verdammten Miststücken hinüber und registriert mit Genugtuung deren Blicke. Sie, Mimi, ist heute schon seit dem frühen Morgen an Carlas Seite, und wenn ihr Plan aufgeht, wird das auch weiterhin so bleiben.
Endlich kommt der Wald in Sicht und damit die Hoffnung auf ein bisschen Abkühlung. Carla hält Mimi am Arm fest.
„Wann?“, flüstert sie.
„Nach der Mittagsrast“, flüstert Mimi zurück.
Im Wald ist es kühler. Sassmann tupft seine Glatze mit einem Stofftaschtuch ab. Nachdem er das schon unzählige Male getan hat, muss das Taschentuch klamm sein von seinem Schweiß. Mimi sieht zu Carla und schneidet eine Grimasse. Hinter ihr ist die Stimme von Frau Jenne zu hören.
„Luca, David, hört auf mit der Rangelei, Deli, gib Rebekka ihre Trinkflasche zurück, Irina, lass das ...“
Die Ermahnungen sind eine endlose, monotone Begleitmelodie, mit dem immer gleichen Refrain: „Bleibt zusammen!“
Die Lehrer sind nervös. Mimi weiß, warum. Wegen Philipp S., zehn Jahre alt, genau wie Mimi. Sein Name ist seit Wochen in den Nachrichten. Ein Mann hat ihn entführt, und dann ... An diesem Punkt schalten Mimis Eltern das Radio oder den Fernseher auf einen anderen Sender. Auf dem Foto, das sie in den Nachrichten gezeigt haben, sieht er ein bisschen aus wie Timmi. „Was interessiert uns so eine Heulsuse?“, hatte Carla gesagt. Nur Heulsusen werden entführt. An ein verdammtes Miststück traut sich niemand ran. Als die Meldung kam, dass Philipp S. gefunden wurde, tot, hat Carla nichts mehr dazu gesagt.
Mimis Beine fühlen sich schwer an. Im Schatten der Fichten tanzen Sonnenflecken auf dem Weg. Carla hebt einen Fichtenzapfen auf und zielt damit auf Sassmanns roten Nacken, verfehlt ihn aber. Die Miststücke kichern. Mimi lächelt in sich hinein. Das war nichts. Sie hat den Verdacht, dass der Versuch, Sassmann zu treffen, gar nicht so ernsthaft war. Das, was sie vorhat, ist dagegen wirklich ernsthaft. Carla mag einen großen Bruder haben, den alle bewundern und vor dem sie vielleicht sogar ein wenig Angst haben, aber wenn Mimis Plan aufgeht, wird sie aus Carlas Schatten hervortreten und nicht länger eins von den Miststücken sein, sondern jemand, der sich Titel für die anderen ausdenkt.
Carla geht schneller, lässt Mimi hinter sich und zwängt sich zwischen die Zwillinge. Sofort wenden die beiden sich ihr zu, und der schwesterliche Gleichschritt kommt aus dem Rhythmus. Mimi kann nicht verstehen, was Carla sagt, aber das aufgeregte Wischen der Zwillingspferdeschwänze deutet auf einen neuen Auftrag hin. Tatsächlich steckt Carla ihnen etwas zu und lässt sich wieder zurückfallen.
„Das wird lustig“, raunt sie Mimi zu.
Irina und Deli schließen zu ihnen auf.
„Mimi hat was vor“, informiert Carla sie.
„Was?“ Deli reißt gierig die Augen auf. „Erzähl!“
„Ihr werdet’s sehen“, gibt Mimi zurück und wechselt einen schnellen Blick mit Carla.
„Komm schon“, drängt Irina. „Ein Stichwort.“
„Verstecken“, sagt Mimi.
Delis Augen werden noch größer.
„Verstecken?“ Irina klingt enttäuscht. Und erleichtert.
Die Zwillinge vor ihnen drehen sich um und lassen fast synchron zwei große pinkfarbene Bubblegum-Blasen platzen. Carla macht eine ungeduldige Geste in ihre Richtung. Die beiden beschleunigen ihren Schritt und drängen sich rechts und links an Sassmann vorbei. Zwei pinkfarbene Andenken bleiben an seinem Rücksack zurück. Eines davon fällt bereits nach wenigen Sekunden auf den Weg. Mimi macht einen großen Schritt, um nicht daraufzutreten. Das zweite tropft ins trockene Gras, als sie die Lichtung erreichen und Sassmann den Rucksack absetzt. Mimi sieht zu den Zwillingen, die betrübt die Stirn runzeln. Den Titel können sie sich in die Haare schmieren.
Frau Jenne stellt sich an Sassmanns Seite und erklärt, dass alle ab jetzt zwei Stunden Zeit haben zum Picknicken, Ausruhen, Herumlaufen. „Auf jeden Fall in Sichtweite bleiben, und das heißt: maximal zehn Schritte von der Lichtung in den Wald. Zehn Schritte!“
Mimi sieht sich verstohlen um. Die Lichtung grenzt zur einen Seite an den Fichtenwald. Auf der anderen Seite drängt sich dichtes Gebüsch heran, Brombeergestrüpp, Haselnusssträucher. Dahinter beginnt ein aufgelockerter Wald aus Nadel- und Laubbäumen. Die Bedingungen für ihr Vorhaben können nicht besser sein.
Die Lichtung selbst ist mit hohem, trockenem Gras bewachsen, über dem Insekten schwirren. Drückende Hitze liegt darüber, und Mimi hätte sich gern einen Platz im Schatten gesucht, aber Carla hat einen Baumstumpf zwischen den trockenen Grashalmen gefunden und lässt sich mit einem übertriebenen Seufzer darauf hieder. Die drei Miststücke und die beiden Titelanwärterinnen setzen sich im Halbkreis um ihre Anführerin ins Gras und holen ihre Trinkflaschen und Lunchpakete aus den Rücksäcken.
„Iiiih!“ Deli hält einen geschmolzenen Schokoriegel hoch, der in seiner Verpackung schlaff zwischen ihren Fingern hängt.
„Wie kann man bei der Hitze Schokolade mitnehmen?“ Carla verzieht das Gesicht.
Irina lässt daraufhin schnell etwas in ihrem Rucksack verschwinden. Mimi reckt den Hals, um sich nach Sassmann umzusehen. Er setzt sich gerade nicht weit von den Miststücken entfernt auf einen langen Baumstamm, der am anderen Ende bereits von ein paar Jungs belagert wird. Sein Gesicht ist knallrot und wirkt irgendwie verrutscht, als ob es in der Hitze seine Form verloren hätte.
„Ich hab Cola dabei!“
Carlas laute Stimme lässt Mimi aufschrecken. Fünf Augenpaare haben sich auf die Anführerin gerichtet, die mit vorgerecktem Kinn eine Flasche in der Hand hält. Cola! Mimi meint, den süßen, am Ende leicht bitteren Geschmack zusammen mit dem Prickeln der Kohlensäure auf der Zunge zu spüren. Cola. Unerreichbar für jemanden, dessen Eltern der Meinung sind, dass man mit zehn für so etwas noch zu jung ist. Mimi beißt die Zähne aufeinander und öffnet ihre Brotdose. Zwei Butterbrote liegen darin, jeweils mit einer Scheibe Käse belegt, schwitzenden, wabbeligen Lappen. Mimi nimmt eines der Brote aus der Dose und beißt lustlos hinein. Das Mineralwasser aus ihrer Trinkflasche ist lauwarm. Der Gedanke, dass es Carla mit ihrer Cola genauso gehen muss, versöhnt sie ein wenig.
Die Mittagshitze flirrt über der Lichtung. Mimi schafft nur das halbe Käsebrot. Den Rest legt sie in die Dose zurück. Sie wäre gerne in den Schatten gegangen, um dort einfach nur das Ende der Rast abzuwarten, aber Carla hat andere Pläne.
„Auftragsrennen!“, verkündet sie.
Mimi unterdrückt einen Seufzer. Immerhin, den anderen Miststücken scheint es ähnlich zu gehen. Wie in Zeitlupe packen sie ihre Brotdosen ein und stehen auf.
„Deli: ein Tannenzapfen!“, kommandiert Carla. „Irina: ein Stein!“
Für jede von ihnen bestimmt sie einen Gegenstand. Mimis Auftrag ist eine Haselnuss.
Als Frau Jenne endlich zum Aufbruch ruft, ist Mimi schwindelig und ihr Magen rebelliert. Sie fühlt sich wie die Käsescheibe in ihrem Butterbrot: schwitzend und wabbelig. Carla ist unerbittlich.
„Geht’s jetzt los?“, fragt sie aufgekratzt.
Mimi nickt stumm. Sassmanns Stimme weht zu ihnen herüber: Müll aufsammeln, einpacken, zum Durchzählen zusammenkommen. Mimis Herzschlag beschleunigt sich. Ihre Mattigkeit ist mit einem Mal verflogen.
Carla hat sich abgewendet. Irina reicht der Anführerin den Rucksack an. Aus der Geste, mit der Carla ihn entgegennimmt, kann man deutlich lesen, dass sie erwartet hat, jemand würde ihn für sie tragen. Mimi schwingt sich ihren eigenen über die Schulter. Wenn sie selbst erst Anführerin ist, werden die anderen sich darum streiten, wer ihre Sachen tragen darf. Aber jetzt muss sie sich auf ihren Plan konzentrieren. Sie hält sich ein wenig abseits und wartet auf den richtigen Moment.
Frau Jenne weist einen der Jungs zurecht, der einem Mädchen Kletten in die Haare geworfen hat. Sassmann fängt an zu zählen. Er zeigt mit ausgestrecktem Finger auf jeden Schüler und bewegt dabei die Lippen, stockt, schüttelt den Kopf und beginnt von Neuem.
Mimi schiebt sich langsam rückwärts. Hinter ihr sind die Haselnusssträucher, halb überwuchert von Brombeerranken, die, wie sie von ihrem Laufauftrag weiß, mit gemeinen Dornen bewehrt sind. Sie muss vorsichtig sein, darf aber auch keine Zeit verlieren.
Als Sassmanns Finger einen neuen Zähldurchlauf startet, dreht sie sich blitzschnell um, macht einen hastigen Schritt nach rechts auf der Suche nach einer Lücke in dem dichten Gestrüpp, zwei Schritte nach links, eine Lücke ist das nicht, aber es muss reichen, und zwängt sich zwischen den Zweigen und Dornenranken hindurch, die sich nicht zur Seite schieben lassen, sondern sich ineinander verhaken, als wollten sie ihr den Weg versperren, die sich in den Stoff ihres T-Shirts krallen, ihre nackten Arme und Beine zerkratzen, aber es gibt kein Zurück mehr.
Sie hockt sich hin, kneift die Augen zu, hält die Luft an und hofft, hofft, hofft, dass niemand - nicht Sassmann, nicht Frau Jenne und auch nicht die Jungs, und am allerwenigsten eines der Miststücke - sie in diesem beschissenen Gestrüpp sieht.
„Einundzwanzig, zweiundzwanzig ...“
Jetzt zählt Sassmann laut, so laut, dass er über das Stimmengewirr der Schüler bis zu Mimi hin gut zu hören ist. Mimi verflucht sich selbst. Daran hat sie nicht gedacht. Wenn Sassmann merkt, dass jemand fehlt, dann werden sie sie suchen und finden. Sie hätte warten müssen, bis Sassmanns Finger sie erfasst hat, und dann erst verschwinden. Aber jetzt ist es zu spät.
„Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig – alle da!“
Alle da? Das ist unmöglich. Sassmann muss sich verzählt haben ... Mimi öffnet die Augen, dreht den Kopf, so weit es geht, und späht durch die Zweige in Sassmanns Richtung. Tatsächlich! Sie kann ihr Glück kaum fassen. Er winkt ungeduldig, und die ersten Schüler setzen sich in Bewegung. Mimi sieht die Zwillingspferdeschwänze wippen, und für einen Moment blitzt Carlas neongelbe Kappe auf, aber dann wird sie verdeckt von den Jungs, die sich am Ende des Zuges halbherzig hin und her schubsen, als ob sie keine richtige Lust mehr dazu hätten. Frau Jenne muss schon vorausgegangen sein, sie ist nirgends zu sehen. Und jetzt wendet sich auch Sassmann zum Gehen. Doch bevor er sich ganz umdreht, hält er inne und sieht in Mimis Richtung.
Sein Blick trifft Mimi wie ein Schwall heißen Wassers. Nein, bitte! Wenn er sie jetzt doch noch entdeckt, dann ist ihr Plan gescheitert. Aber er hat sich schon abgewandt. Trotzdem rinnt das heiße Wasser noch an Mimis Rücken hinunter, es fühlt sich an, als ob es tiefe Furchen in ihre Haut graben würde.
Sassmanns verschwitztes blaues Polohemd taucht in den Schatten des Waldes, es sieht aus, als ob er von den Schülern weggeschwemmt würde, und Sekunden später ist er nicht mehr zu sehen.
Mimi starrt dorthin, wo er verschwunden ist. Das heiße Wasser ist weg, und jetzt fühlt sie sich wie ein Ballon, der sich langsam mit Helium füllt und immer leichter wird, so leicht, dass er kühl und frei in den blauen Himmel steigt. Sie schiebt sich durch die Zweige. Zuvor haben die Dornen sie auf dem Weg in ihr Versteck aufzuhalten versucht. Jetzt wollen sie sie nicht mehr hinauslassen. Aber Mimi beißt die Zähne zusammen und kämpft sich ins Freie. Die Schrammen an ihren Armen und Beinen brennen, und noch mehr die in ihrem Gesicht. Sie lächelt grimmig. Eine Erinnerung an diesen Tag, die noch lange bleiben wird – für sie und vor allem für Carla und die Miststücke. Sie hat es geschafft. Jetzt kann nichts mehr schiefgehen. Carla wird nach ein paar Minuten Alarm schlagen. „Sassmann wird durchdrehen“, hat Carla gesagt. „Das ist der Super-GAU für ihn.“ Erst recht nach der Sache mit Philipp S.. Sassmann wird sofort zurückkommen und Mimi suchen. Um die Spannung noch ein bisschen zu erhöhen, wird sie sich eine Weile verstecken und Sassmann dabei zusehen, wie er in Panik gerät. Dafür braucht sie ein Versteck, ein besseres als das Dornengestrüpp.
Sie geht ein Stück am Rand der Lichtung entlang, dann entscheidet sie sich für den Fichtenwald. Dort ist es kühler, und im Schatten der Bäume wird sie noch schwerer zu sehen sein.
Nach dem hellen Sonnenlicht haben ihre Augen Schwierigkeiten, etwas zu erkennen. Gleißende Flecken tanzen zwischen den dunklen Baumstämmen umher. Trockene Äste knacken unter ihren Füßen. Es riecht nach Holz und Wärme, und es ist ganz still. Sie bleibt stehen und lauscht. Erst jetzt wird ihr bewusst, wie still. Kein Vogelgezwitscher, kein Wind in den Wipfeln der Fichten, nicht einmal das ferne Rauschen einer Straße. Sie hört nur ihr eigenes Ein- und Ausatmen, und als sie die Luft anhält, hört sie gar nichts mehr. Doch – ein Rascheln, wenige Schritte von ihr entfernt. Was ist das? Knistern. Wieder Stille.
Angestrengt starrt sie dorthin, wo die Geräusche hergekommen sind. Brombeerranken, Fichtenzapfen, heruntergefallene Zweige. Nichts regt sich.
Wieder ein Geräusch, weiter entfernt. Da ist etwas. Jemand, schießt es Mimi durch den Kopf. Ein Mensch. Ein Mann.
Mimi erstarrt. Ihr Herz schlägt so heftig, dass sie kaum Luft bekommt. Jetzt kann sie Schritte ausmachen, die näher kommen. Nein, sie entfernen sich. Nein. Die Schritte umkreisen sie. Sie sind hinter ihr. Ihr Körper spannt sich, und sie spürt überdeutlich den Druck der Rucksackträger, als ob sich Hände auf ihre Schultern gelegt hätten. Sie will die Hände abschütteln, aber sie kann sich nicht bewegen. Der Mann ist hinter ihr und wartet. Worauf? Will er ihre Angst auskosten, bevor ... War es so, als er Philipp S. entführt hat? Wo hat er ihn hingebracht? Was hat er mit ihm gemacht?
Vor Mimis Augen wird es dunkel. Ein Keller. Feuchter, modriger Geruch. Ein schmaler Lichtschacht, durch den fahle Dämmerung auf den Betonboden sickert. Eine schwere Tür, die sich öffnet, eine massige Gestalt: der Mann. Sein Gesicht ist eine dunkle Masse.
Das Grauen kriecht in Mimis Mund. Würmer, die sich winden, sie spürt die schleimigen Leiber auf ihrer Zunge, in ihrem Hals und muss würgen. Der Waldboden unter ihren Füßen dreht sich, hebt sich ihr entgegen, sie fällt nach vorn, auf Hände und Knie. Heftiger Schmerz pocht in ihrem Kopf. Sie meint zu ersticken. Die Würmer ausspucken. Atmen. Ein. Aus.
Sie kauert sich zusammen, macht sich ganz klein. Verstecken. Vielleicht sieht er sie nicht. Wenn es ihr gelingt, mit dem Waldboden zu verschmelzen, wie ein kleines Tier, das sich eingräbt, kaum noch atmet, kaum noch lebt. Nichts mehr spürt, keine Angst, keine Reue, nichts.
„Mimi!“ Die Stimme, die ihren Namen ruft, lässt sie zusammenfahren. Jetzt sind wieder Schritte zu hören, die rasch näherkommen.
„Steh auf!“
Eine harte Hand packt sie, reißt sie hoch. Sie taumelt. Ihre Knie zittern. Die Hand lässt sie los.
Sassmann dreht sie zu sich um. Er ist viel größer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Sie reicht ihm gerade so bis zur Brust. Er tritt einen Schritt zurück. Mimi schaut nicht auf, aber sie spürt, dass er auf sie herabsieht.
Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und geht auf die helle Lichtung zu. Mimi stolpert hinter ihm her.