Hallo, liebe Höllenteufel!
Habt Ihr noch mal Lust zum Rösten? Ich habe eine Kurzgeschichte fertiggestellt, die schon seit über einem Jahr auf ihr Ende wartet. Seinerzeit konnte ich sie nicht zuende schreiben, irgendwie ging das nicht. Aber ich hatte ein Bild im Kopf, das ich dann auch - zugegebenermaßen etwas dilettantisch - auf Papier gebannt habe, und das hat mir geholfen.
Feuer frei!
PietàDie Leine wird er an einem der kahlen Büsche festmachen, die den Blick von der abgewandten Seite des Rastplatzes auf den urinierenden Fernfahrer verstellen.
Gabor versucht das Kratzen der Hundekrallen im Laderaum seines Kombis zu überhören und konzentriert sich stattdessen auf den LKW-Fahrer, der jetzt seine Hose zurechtruckelt, einen Schritt zurücktritt und dann mit schlenkernden Armen zu seinem Truck geht. Der Hund fiept leise. Ein paar Minuten verstreichen. Gabor wartet darauf, dass der LKW-Motor anspringt und der Sattelzug sich in Bewegung setzt, aber abgesehen von einer Krähe, die den Müll im plattgetretenen Gras neben dem Abfalleimer inspiziert, bewegt sich nichts auf dem Rastplatz.
Rascheln im Laderaum, das Fiepen verstummt. Wahrscheinlich hat der Hund sich hingelegt. Gabor sieht ihn vor sich, ein struppiges Fellbündel, nicht größer als ein Netz Kartoffeln aus dem Supermarkt. Eine Vorderpfote ausgestreckt, die andere, verkrüppelte, unter den Körper gezogen. Der LKW-Fahrer. Er muss sich auf den LKW-Faher konzentrieren. Aber er kann keine Regung hinter der hohen Windschutzscheibe erkennen, und der Motor des Sattelzugs bleibt still.
Die Krähe stakst zu der klobigen Holzsitzgruppe. Noch mehr Müll, aber offenbar nichts, was ihr Interesse weckt. Sie stochert eine Weile lustlos darin herum, dann gibt sie es auf und fliegt davon.
Der Hund hat einen Namen: Marty McFly. Ein Vor- und ein Nachname, das ist mehr, als die meisten Mischlingshunde haben. Gabor nennt ihn nicht mehr beim Namen. Wenn er an ihn denkt oder über ihn spricht, dann als “der Hund”. Vor nicht allzu langer Zeit hat er ihn “Marty” gerufen. Das war, als der Hund noch vier gesunde Pfoten hatte.
Der LKW steht immer noch da. Die Scheibe reflektiert den wolkenverhangenen Himmel. Wahrscheinlich macht der Fahrer eine längere Pause. Ein zweiter Sattelzug rollt jetzt auf den Rastplatz. Gabor startet seinen Wagen. Vielleicht geht es woanders leichter. Morgen. Oder übermorgen.
Zu Hause hinkt der Hund sofort zu der Ecke im Flur, wo zuvor sein Futternapf gestanden hat. Gabor geht in die Küche und holt frisches Wasser. Wozu noch einmal Futter kaufen? Bis morgen wird es schon gehen. Er stellt dem Hund das Wasser hin und geht ins Wohnzimmer.
Es dauert nicht lange, bis der Hund ihm nachkommt und sich unter dem Couchtisch zusammenrollt, an Gabors Füße geschmiegt. Gabor spürt seine Wärme und die sanfte, regelmäßige Bewegung seines Atmens. Durch die Glasplatte des Tischs sieht er die schwarzbraune Fellzeichnung. Die Schnauze des Hundes, die auf der gesunden Pfote liegt, ist schwarz-braun gesprenkelt. Als der Hund noch Marty hieß, hatte Gabor es gemocht, wenn die Schnauze sich auffordernd unter seine Hand schob.
***
Gabor kraulte Marty hinter den Ohren. Sein Telefon klingelte. Melissa. Sie rief an, um ihm zu sagen, dass es aus war.
“Was … willst du damit sagen?”, fragte er überflüssigerweise.
“Es ist vorbei, Gabor.”
Als ob sich “aus” mit “vorbei” erklären ließe.
Marty stupste ihn mit seiner Schnauze an.
“Aber wir wollten doch … wir hatten doch geplant …"
“Das geht mir alles zu schnell. Mir ist klar geworden, dass ich das noch nicht will.”
Marty, der hechelnd zu ihm aufsah.
“Wir können uns Zeit lassen, Mel. Dann eben nächstes Jahr. Oder wann auch immer.”
“Nein, ich …"
Es sah aus, als ob Marty ihn anlächeln würde. Gabor öffnete die Terrassentür und schob ihn mit dem Fuß nach draußen.
“Bitte, Mel, lass uns in Ruhe darüber reden.”
“Das würde nichts ändern.”
Gabor ging in die Küche. Seine Knie zitterten. Am Kühlschrank hing ein Foto: Mel und er, lachend, geblendet vom Sonnenlicht.
“Das kann es doch nicht gewesen sein. Nach drei Jahren … Bitte, Mel …"
“Es tut mir leid, Gabor.”
Drei abfallende Töne, dann Stille. Gabor starrte auf den Wasserhahn über der Spüle, auf einen Tropfen, der langsam anschwoll, sich in die Länge zog, zu zittern begann und nach zähen Sekunden in das Spülbecken fiel. Gabor hatte das Gefühl zu ersticken. Er riss das Fenster über der Spüle auf und atmete stockend die feuchte Herbstluft ein.
Ein weiterer Tropfen fiel, und im gleichen Moment schlug die Terrassentür zu, gefolgt von einem hohen, atemlosen Laut. Gabor stürzte zurück ins Wohnzimmer.
Der Hund wand sich winselnd draußen auf den Terrassenfliesen. Gabor konnte nicht sehen, was los war, etwas mit der Pfote, gequetscht? Auf den Fliesen war Blut. Gabor versuchte den Hund festzuhalten, der nach seiner Hand schnappte – verdammt, beruhige dich doch, wenn ich dir helfen soll, und hör bitte, bitte auf mit dem Gejapse, das macht es nur noch schlimmer! Gabor sprang auf, hielt sich die Ohren zu und flüchtete zurück ins Wohnzimmer, in den Flur und schließlich aus dem Haus. Das Winseln verfolgte ihn, er lief weiter, wich den Pfützen auf dem Gehweg aus, verdammt, jetzt fing es auch noch an zu regnen, und er hatte seine Jacke vergessen und nur Hausschuhe an den Füßen, und sein Schlüssel … verdammt!
***
Wie viel Zeit war verstrichen, als der Nachbar, bei dem er seinen Ersatzschlüssel deponiert hatte, endlich auf sein Klingeln reagierte? Gabor war völlig durchnässt und zitterte vor Kälte. Es gelang ihm erst nach vier vergeblichen Versuchen, den Schlüssel ins Haustürschloss zu stecken und ihn umzudrehen.
Das Winseln war verstummt, setzte aber sofort wieder ein, als er die Haustür hinter sich schloss.
***
Gabor schreckt vor der Wärme des kleinen Körpers unter dem Couchtisch zurück. Der Hund hebt den Kopf und sieht ihn an.
“Es war nicht meine Schuld!”
Gabors Stimme klingt schrill, die Stimme eines Lügners. Der Hund drängt sich an seine Beine, bettelt um Nähe und Zärtlichkeit. Gabor wird von einem jähen Schmerz durchdrungen. Er nimmt den Hund auf den Arm, drückt ihn an sich, flüstert ihm ins Ohr:
“Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid.”
Etwas Warmes, Lebendiges füllt die kalte Leere in seiner Brust, und für einen Moment glaubt er der Lüge. Bis die Wahrheit wieder den Nebel des trügerischen Gefühls durchbricht. Gabor hebt den Kopf und sieht die Verschlagenheit im Blick des Hundes, die stumme Anklage. Er lässt den Hund los, stößt ihn von seinem Schoß und steht auf.
***
Ein neuer Versuch. Ein anderer Rastplatz. Es ist noch früh. Nachtfrost überzieht das graue Gras. Gabor steigt aus dem Auto und öffnet die Heckklappe. Mit kältesteifen Fingern befestigt er die Leine am Halsband. Minus zehn Grad hat das Thermometer an der Hauswand gezeigt. Der Hund springt unbeholfen aus dem Auto und hinkt neben Gabor her auf die kahlen Büsche zu. Gabors Schritte knirschen auf dem gefrorenen Gras.
Als er die Leine an einem Ast verknotet, macht der Hund ein Geräusch - kein Bellen, kein Knurren, kein Fiepen, sondern einen fragenden Laut, den Gabor unbeantwortet lässt. Er wendet sich ab und geht über das gefrorene Gras zurück zum Auto.
***
Gabor sitzt in der Küche und wartet darauf, dass sich ein weiterer Tropfen vom Wasserhahn löst und in die Spüle tropft. In diesem zähen, gleichförmigen Rhythmus zerrinnt der Tag. Abends schaltet er den Fernseher an. Er schläft auf dem Sofa ein, wacht weit nach Mitternacht auf und geht zu Bett.
Morgens in der Küche wieder der tropfende Wasserhahn. Gabor zählt die Tropfen, bis die Zahlen ihren Sinn verlieren. Er schreibt “Hundefutter” auf den Einkaufszettel und streicht das Wort wieder durch. Marty drängt sich an seine Beine. Ob ihn jemand gefunden hat, ein LKW-Fahrer oder eine Familie auf dem Heimweg vom Winterurlaub? Gedankenverloren beugt Gabor sich zu ihm hinunter, um ihn hinter den Ohren zu kraulen. Seine Finger greifen ins Leere.
Gabor steht auf. Vielleicht hat jemand den Hund ins Tierheim gebracht … Ich sollte frühstücken, zwingt er sich zu denken. Er öffnet die Tür der Speisekammer. Sein Blick wandert über die Regale. Kein Appetit. Schließlich greift er nach einer Rotweinflasche.
Nach dem zweiten Glas wird er ruhiger. Er setzt sich wieder an den Küchentisch und faltet seine Hände auf der Tischplatte. Marty sitzt neben seinem Stuhl und sieht zu ihm auf. Gabor schaut nicht hin, aber er weiß, dass er da ist. Immer da sein wird.
Er trifft eine Entscheidung. Im Flur nimmt er den Autoschlüssel vom Bord.
***
Marty ist noch da, wo er ihn zurückgelassen hat. Der kleine Körper liegt unbter den kahlen Büschen, zusammengerollt, überzogen mit Rauhreif. Gabor beugt sich über ihn. Die Lefzen sind zurückgezogen und entslößen die Zähne zu einem Lächeln. Gabor hebt den kalten, starren Körper auf und trägt ihn zum Auto.
***
Die zweite Flasche Wein ist fast leer. Gabor schaut zu Marty hinüber, der eine Armlänge von ihm entfernt auf den Terrassenfliesen liegt. Friedlich, als ob er schlafen würde. Der Wein ist herb und kratzt in Gabors Hals, aber das macht ihm nichts aus, ebenso wenig wie die Kälte. Sie ist ihm sonderbar vertraut. Er denkt an den tropfenden Wasserhahn in der Küche. Hier draußen würde das Wasser gefrieren, und das Tropfen würde aufhören. Der Gedanke gefällt ihm: Starre. Stille. Es kommt ihm vor, als ob er endlich am Ziel wäre. Alles ist starr und still. Fühlt es sich so an zu erfrieren? So vollkommen?
Die Türklingel lässt die Stille zersplittern. Gabor schreckt hoch. Er blinzelt, kann nicht klar sehen, der frostbleiche Garten verschwimmt vor seinen Augen. Er versucht, irgendein Detail in den Fokus zu nehmen, den Lebensbaum, die niedrige Mauer am Rand der Böschung, die schmiedeeiserne Gartenbank, aber seine Augen brennen und sein Blick rutscht weg. Es klingelt wieder. Gabors steife Glieder wollen ihm nicht gehorchen. Die Kälte ist überall, sie durchdringt ihn, lähmt ihn, nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Gedanken. Was hatte ihn aufgeschreckt? Was hatte ergewollt? Er ist so müde. So unendlich müde ...
Die Türklingel. Melissa. Auf Knien und Händen bewegt er sich vorwärts. Die Fliesen sind eiskalt und hart, scharfkantig, gnadenlos. Aber Gabor kriecht weiter. Er hört einen Schlüssel im Haustürschloss, Melissa, die seinen Namen ruft. De Terrassentür, die zuschlägt, in dem Augenblick, in dem seine Hand die Türschwelle erreicht.
***
Es tut nicht weh.
Melissa. „Komm rein. Was soll das Theater? Was ist mit deiner Hand?“ Pause. „Du bist betrunken.“
Sie sagt noch mehr, aber Gabor schweigt und rührt sich nicht. Nicht einmal, als sie geht. Nicht einmal, als die Terrassentür ein letztes Mal zuschlägt.
***
Die Weinflasche ist umgefallen. Ein kleines, rotes Rinnsal versiegt neben Gabors ausgestreckten Beinen. Er spürt nichts mehr. Marty ist da. Gabor hält ihn in seinen Armen.