So, ich hab der Geschichte mittlerweile den vierten neuen Anfang verpasst. Außerdem heißt sie nicht mehr "Das zwölfte Geheimnis", sondern "Wederland", und auch thematisch hat sich einiges verändert.
Die ursprüngliche Version gibt's hier:
https://www.federfeuer-forum.de/forum/index.php?topic=18531.0---------------------------------------------------------------------------
Am Morgen meines dreizehnten Geburtstags bekam ich einen Brief.
Ja, ich weiß, das klingt im ersten Moment nicht besonders aufregend. Die meisten Leute bekommen irgendwann in ihrem Leben Briefe. Aber für mich war es ein Ereignis, auf das ich seit vier Jahren sehnsüchtig wartete. Genauer gesagt, seit dem Tag, an dem ich den zugeklebten Briefumschlag mit der Aufschrift „Für Usu zum 13. Geburtstag” in einer Schuhschachtel in Mamas Kleiderschrank entdeckt hatte. Da ich in diesem Kleiderschrank absolut nichts zu suchen hatte, konnte ich ihr leider nicht sagen, dass ich den Umschlag gefunden und bitte sofort haben wollte, weil ich die Handschrift nicht kannte und nicht wusste, von wem er war. Die Schachtel half mir nicht weiter, sie enthielt nur ein paar Fotos von Häusern und Leuten, die ich noch nie gesehen hatte. Also hatte ich sie wieder in den Schrank gestellt und mir den Umschlag genau angesehen. Er roch nach altem Papier und ganz schwach nach Pfefferminz oder etwas Ähnlichem. Und er war, soweit ich es erkennen konnte, selbstgemacht, sehr gerade ausgeschnitten und mit einer dreieckigen Lasche zusammengeklebt. Auf der Rückseite stand kein Absender. Die Schrift auf der Vorderseite sah ebenfalls alt aus. So schön und gleichmäßig schrieb doch heutzutage niemand mehr, und vor alle - was war das für eine komische Schrift? Es dauerte ewig, bis ich die Worte entzifferte, und dann entdeckte ich auch noch einen Schreibfehler. Geburtftag? Wie konnte man denn so einen dämlichen Fehler machen?
Ich hielt den Umschlag gegen das Licht, konnte aber keine Umrisse sehen. Das Papier war dick und fest und undurchsichtig. Ich fühlte an den Kanten herum und bildete mir ein, dass er einen Brief und eine Postkarte oder so etwas enthielt, sicher war ich aber nicht.
Jedenfalls konnte ich den Umschlag nicht einfach mitnehmen und heimlich über Wasserdampf öffnen. Das heißt, ich konnte schon, aber vielleicht machte der Dampf den Inhalt kaputt, oder ich konnte die Lasche nicht wieder richtig zukleben, und außerdem bin ich eine schlechte Lügnerin und würde es nie schaffen, an meinem Geburtstag Überraschung zu heucheln. Auf jeden Fall würde Mama herausfinden, was ich verbrochen hatte. Sie findet immer heraus, was ich verbrochen habe.
Also musste ich warten.
Zum Glück waren die drei folgenden Jahre zwar lang, aber ereignisreich genug, dass ich den Brief monatelang vergaß. Mama verliebte sich erst in Simon, dann in Lars und dann in Rainer, wir fuhren in den Sommerferien an die Ostsee, ich machte durch meine eigene Blödheit meine Schulfreundschaft mit Lena kaputt, ging schwimmen, wurde in der Schule von Lena und ihrem Gefolge gemobbt, prügelte mich mit Marie und flog dafür beinahe von der Schule. Außerdem las ich eine Menge Bücher und lernte - nicht ganz freiwillig - Reiten, weil Mama findet, dass man reiten können sollte. Sie findet auch, dass man in der Wildnis überleben können sollte, und deshalb verbrachten wir viele, viele Wochenenden in einem triefendnassen Zelt im Wald, und ich lernte, wie man ein Feuer anzündet, Spuren liest und essbare Pilze sammelt. Das machte mir mehr Spaß als das Reiten.
Wo war ich? Ach ja, der Brief. An jedem Geburtstag dachte ich an ihn und hoffte, dass Mama ihn vielleicht doch ein, zwei oder drei Jahre früher aus der Schachtel holen würde, aber das tat sie nicht. Wenn sie nicht da war, schlich ich manchmal zum Schrank, holte den Brief heraus, guckte ihn an und versuchte, mir vorzustellen, von wem er war und was drin steckte.
Von einem Verwandten konnte er nicht sein, ich hatte nämlich keine. Mama und ich waren allein, seit mein Vater uns verlassen hatte, als ich zwei war. Ich hatte keine Geschwister, keine Tanten oder Onkel und keine Großeltern, und weder Simon noch Lars waren lange genug geblieben, um sich verwandt anzufühlen. Rainer wohnte erst seit einem Jahr bei uns und kam schon mal gar nicht in Frage. Mama hatte eine Freundin, die ich Tante Sandra nannte, aber ich konnte mir absolut nicht vorstellen, warum sie mir einen Brief zum dreizehnten Geburtstag schreiben sollte. Und schon gar nicht Jahre vorher. Außerdem hatte ich das gesehen, was man mit viel Fantasie ihre Handschrift nennen konnte, und es ähnelte in nichts der sauberen Zeile auf meinem Umschlag.
Eigentlich konnte er nur von meinem Vater sein. Über den ich nur eins wusste, nämlich dass er uns verlassen hatte. Eines Tages war er einfach weg gewesen. Und Mama weigerte sich, über ihn zu reden; sie verriet mir nicht einmal seinen Namen. Ich fand nicht, dass die Handschrift irgendwie besonders männlich aussah, aber je öfter ich den Umschlag herausholte und anstarrte, desto sicherer war ich. Mein Vater hatte mir einen Brief geschrieben, bevor er verschwunden war. Einen Brief, in dem er alles erklärte: Wer er war, warum er uns verlassen hatte, und dass ich immer seine geliebte Tochter sein würde, egal wie weit wir voneinander entfernt waren. Und eines Tages würden wir uns wiedersehen. Ich verbrachte so viele Nächte vor dem Einschlafen damit, über jeden Satz nachzudenken, den er geschrieben hatte, dass ich sicher war, an meinem dreizehnten Geburtstag jedes einzelne Wort zu kennen.
Und dann, drei Tage vor meinem Geburtstag, guckte ich - nur zur Sicherheit - in die Schachtel im Kleiderschrank, und der Brief war weg.