Guten Morgen und einen wunderschönen Montag, Aye!
Die Zinken meiner Gabel sind letzthin ganz schön stumpf geworden, und ich liebe das, denn dann tut's mehr weh.

(Hatte über den Erwerb eines Löffels nachgedacht, aber die sind soooo Neunziger.)
Eska hat schon einiges angemerkt, auch zum Leseeindruck. Ich konzentriere mich mal ausschließlich auf Struktur und Spannungsbogen, um mal wieder warmzuwerden. In meiner Werkzeugkiste ist halt nur genau dieser eine Hammer, und mit dem mache ich ALLES. Nicht nur Texte, sondern seit einer Weile schon mit überraschend präzisen Ergebnissen Projektplanung und Controlling. Also bitte keinen Schreck kriegen, wenn ich jetzt gleich mit Hauptstrukturpunkten um mich werfe, das dient in erster Linie mir zur Orientierung.
Nadenn, loslegen.
StrukturanalyseAlles, was mir blieb //HOOK//
Der Gast stellte seinen Koffer vor dem Empfangstresen des billigen Motels ab. Er hielt sich gebeugt wie ein alter Mann, konnte jedoch höchstens dreißig Jahre zählen. Scharfe Furchen hatten sich in sein Gesicht gegraben, in dem tief eingesunken die Augen gegen das schummrige Licht anblinzelten, blutunterlaufen vor Übermüdung. Er unterdrückte ein Gähnen und murmelte: „Einzelzimmer bitte, eine Übernachtung, Frühstück, bitte.“ Erschöpft strich er sich eine Strähne aus der Stirn und rieb sich die Nasenwurzel. Dann schaute er sich zerstreut in der Lobby um. Ein paar verschlissene Sessel bemühten sich vergebens um Behaglichkeit und der Ursprung des Mief lag eindeutig in den nikotinvergilbten Tapeten und dem fadenscheinigen Teppichboden, dessen ursprüngliche Farbe nicht mehr zu deuten war.
„Name?“ Gelangweilt kaute der picklige Junge ein Kaugummi und griff nach einem Zimmerschlüssel.
„John Doe.“
Der Bursche hörte auf zu kauen und zog die Hand leer zurück. „Bitte?“, fragte er und betrachtete die Gestalt vor sich eingehender, mit skeptischem Blick. //PLOTPOINT 1//
Nach einem Seufzer wiederholte der Gast den Namen, lauter und betont diesmal. Seine Haltung straffte sich dabei etwas und seine Linke ballte sich unwillkürlich zu einer Faust.
Haltung und Mimik des Jungen, der laut Namensschild Dennis hieß, verrieten inzwischen äußerste Wachsamkeit. „Ausweis bitte.“ Sein Blick flackerte zwischen dem Gast, seinem unterbrochenen Kriminalroman, dem Alarmknopf unter der Theke und dem Telefon hin und her.
Mit knappen Bewegungen riss der Gast sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche, klappte es mit energischem Handschlenker auf und riss eine Plastikkarte heraus, um sie dem erstarrten Dennis vor die Nase zu halten. Nicht eine Sekunde hatte er dabei den Burschen aus den Augen gelassen, als wollte er ihn mit seinen Blicken erdolchen. Sämtliche Müdigkeit schien von ihm abgefallen, als hätte er einen zu weiten Mantel abgestreift.
Offenbar immun gegen solcherlei Drohgebärden nahm ihm der Bursche die Karte aus der Hand und betrachtete sie ausführlich von allen Seiten. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Nope. Ne echte, bitte.“
Gefährlich leise und mit harter Stimme fragte der Gast: „Unterstellen Sie mir etwa Dokumentenfälschung?“
Nun doch etwas verunsichert wich Dennis einen Schritt zurück. „Mann, ruhig bleiben, is nur Vorschrift. Hier dürfen keine falschen Identi-“
„Verflucht noch eins!“, brüllte der Gast los. Dennis zog den Kopf zwischen die Schultern und hob abwehrend einen Arm.
„Mein Name ist John Doe. Möchten Sie etwa noch meine Geburtsurkunde sehen?“
Bevor Dennis sein zaghaftes Nicken beenden konnte, schlug der Gast mit der Faust auf den Tresen. „Zuerst will ich aber den Manager dieser Absteige sehen, und zwar dalli! So eine Unverschämtheit lasse ich mir nicht bieten!“
Inzwischen stand Dennis mit dem Rücken zur Wand. „A-aber John D-doe heißt d-doch n-nie-.“ //MIDPOINT (?)//
„Na, dann beschweren Sie sich doch bei meiner Mutter, wenn Sie sie finden! Geben Sie mir jetzt einen verdammten Schlüssel oder holen Sie den Manager!“
„Was ist hier los?“, fragte eine tiefe Stimme von der Seite her. In der Tür zu einem kleinen Büro stand ein kleiner, untersetzter Mann. Er schob seine Brille von der Nase auf die Halbglatze, die er äußerst wirkungslos mit zur Seite gekämmten Haarsträhnen zu kaschieren versucht hatte. Sein Blick ruhte auf den wütenden Gast und er lächelte einnehmend. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Sind Sie der Manager?“, herrschte der Gast ihn an.
„Der bin ich. Deecham mein Name. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Der Gast nahm einen tiefen Atemzug und fuhr nur leicht gedämpft fort: „Ihr – Empfangsbursche weigert sich, meinen Ausweis zu akzeptieren. Vielleicht sollte er während der Arbeitszeit weniger Krimis lesen, dann hält er sich vielleicht nicht mehr für einen Experten in Sachen gefälschte Ausweise. Mein Ausweis ist so echt, wie ich es bin und ich heiße, wie ich heiße. Ich möchte jetzt ein Zimmer, verflucht noch eins, ist das irgendwie möglich?“ Die letzten Worte schrie er wieder und schüttelte beide Fäuste. //PLOTPOINT 2(?)//
Beschwichtigend hob der Manager seine Hände. „Ich bin sicher, es ist nur ein Missverständnis. Das haben wir gleich geklärt. Dennis, einen Zimmerschlüssel bitte und trage den werten Gast ein. Dürfte ich Ihren Namen erfahren, Mister?“
„Er heißt John Doe, Sir“, warf Dennis ein, noch ehe sich der Gast selbst vorstellen konnte. „Ehrlich, Sir, ich bitte um Entschuldigung, Sir, aber normalerweise heißt doch niemand wirklich so. Ich bitte um Entschuldigung, Mr. Doe, ich konnte ja nicht wissen -“
Als wäre plötzlich sämtliche Luft entwichen, sackte der Gast in sich zusammen. Er stand mit gebeugtem Rücken und baumelnden Armen vor ihnen und starrte zu Boden. Mit einem müden Kopfschütteln unterbrach John Doe den stammelnden Jungen. „Schon gut, ist ja schon gut. Sie sind nicht der Erste, der mir meinen Namen nicht abkauft. Normalerweise reagiere ich auch nicht so über, aber ausgerechnet heute waren Sie jetzt der dritte und ich habe eine wirklich lange Woche und einen sehr harten Tag hinter mir. Und dann auch noch die Polizeikontrolle, die auf der Polizeiwache endete …“ Und leiser, zu sich selbst: „Wüsste gerne, welche Drogen meine Mutter bei der Namenswahl eingeworfen hatte.“
„Aber Sir, Mr. - Mr. Doe, wenn ... wenn ich fragen darf - warum lassen Sie Ihren Namen denn nicht ändern?“
Unglücklich betrachtete John Doe seine Hände. „Ach, wissen Sie, es ist seltsam, wohl wahr, aber ... ich liebe meine Mutter, auch wenn sie reichlich exzentrisch war. Oder ist. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt. Und dennoch ... liebe ich sie. Mein Name ist alles, was mir von ihr geblieben ist. //POINTE (KLIMAX)// Ich bringe es nicht über's Herz, auch das wegzugeben, verstehen Sie?“ //ENDE//
Die Plotstruktur verwende ich hier nur als Analysemodell, bitte nicht als Plotmodell missverstehen. Ich selbst benutze es zwar auch gerne im letzteren Sinne, aber die Geschmäcker sind verschieden. R.I.P. Ich hab's mit Vorbedacht auf die Spitze getrieben, denn alle die Hauptstrukturpunkte, die ich da reinanalysiert habe, können eine wichtige Funktion im Spannungsbogen erfüllen.
Du meintest, Du habest Zweifel bezüglich des Spannungsbogens. Ich kann Dir das in Teilen nachfühlen. Ich pieks mal behutsam rein und schreibe hin, was mir auffällt.
Zunächst mal: Kurzgeschichte. Beinahe schon auf dem Weg zur Kürzestgeschichte. Eine sehr knackige Textform, die sich über, nunja, Kürze definiert (duh!) und über die Pointe. Was ist eigentlich eine Pointe? Kleinster gemeinsamer Nenner: Eine überraschende Wendung, die am Schluss kommt. Für Überraschung brauchen wir zwei Grundvoraussetzungen: (1) Erwartung schaffen, (2) Erwartung durchbrechen.
Dramaturgisch sind da zwei Strukturpunkte von großer Bedeutung: Hook und Klimax. Die Aufgabe des Hooks besteht darin, für ein erzählerisches Ungleichgewicht zu sorgen, das sich letztlich in der Pointe (Klimax) löst. Wie steht's da bei Dir im Text?
Der HOOK kommt gleich im Titel "Alles, was mir blieb". Er ist vom Typus "Leservertrag", soll heißen, bis man nicht weiß, worin "mein" Verlust bestand, und was gerettet werden konnte, kann die Story nicht vorüber sein. Da wir mit dem Verlust, den ein Mitmensch erleidet, eine gewisse festverdrahtete Grundempathie haben, ist Dein HOOK auch hinreichend dissonant. Du greifst den HOOK zwei Sätze später in der Beschreibung des Mannes wieder auf, indem Du ein Ungleichgewicht zwischen Alter und Erscheinung schaffst. Hm. Ich bin ein wenig verwirrt. Zwei Hooks? Der erste (Titel) steht im Zusammenhang mit der späteren Pointe (und damit vermutlich auch mit dem Thema der Kurzgeschichte). Aber der zweite (Erscheinung vs. Alter) erschließt sich mir nicht ganz. Dem Mann geht es offensichtlich physisch/materiell nicht sonderlich gut. Aber wieso steht das in Zusammenhang mit seinem Namen? Das wird zumindest nicht ausgelotet, also läuft dieser zweite Hook ins Leere. Ich verstehe wahrscheinlich, warum Du ihn drin hast: Der Titel-HOOK ist nicht wirklich personalisiert.
Naja. Weiter im Text. Was liefert die POINTE? Die löst die Dissonanz des HOOKs auf, indem sie den Titel erklärt. Trotzdem fällt die Story hier ein bisschen flach, finde ich, aber das hat vermutlich nichts mit dem HOOK-POINTE-Paar zu tun, das ist zumindest formal OK. Stattdessen habe ich die restlichen Strukturpunkte im Verdacht, die "Aktgrenzen" PLOTPOINT 1, MIDPOINT und PLOTPOINT 2:
Die Aufgaben von Plotpoint 1 sind leicht zusammengefasst: Ab hier muss der Konflikt hinreichend klar sein. Sobald Protagonist, Ziel und Antagonismus etabliert sind, ist Plotpoint 1 genommen. Man macht das ganz gerne mal mit Knalleffekt. Bei Deinem PLOTPOINT 1 ist das alles gegeben: Der Mann (Protagonist) will einchecken (Ziel), heißt aber John Doe, und der Rezeptionist fühlt sich verhinterteilt (Antagonismus). Da habe ich nix zu bekritteln.
Wie steht es um den Midpoint? Der Midpoint soll dem Konflikt die Geradlinigkeit nehmen, meist geschieht das dadurch, dass das innere Ziel des Protagonisten benannt wird. Es nimmt nicht wunder, dass das ziemlich exakt in der Mitte des Spannungsbogens geschieht. Wie sieht es in Deinem Text aus?
Dein MIDPOINT liefert einen Knaller (indem eine vorher eher zurückhaltende Figur ausrastet), außerdem scheint sich das Kräfteverhältnis zwischen Rezeptionist und John umzukehren. Aber es fehlt was: Der Konflikt nimmt keine neue Richtung, gewinnt keinen Aspekt hinzu. Es geht nach wie vor nur um Johns äußeres Ziel: Einchecken. Folge: Der Zug bleibt auf demselben Gleis, damit ist die "Pointe" nur ein Konfliktende, hat wenig Überraschendes. Ganz gleich, ob eine Pointe lustig oder ernst ist, folgt sie im Grunde immer einem einfachen Grundprinzip: "Bait and Switch". Köder auslegen, dann umschalten, um den Leser an der Nase herumzuführen. Bei Deinem Text fehlt der Köder. Der müsste im Midpoint die Dissonanz, die der HOOK gesetzt hat, in eine (falsche) Erwartung ummünzen. Klassisch betrachtet, wäre das Äquivalent das innere Ziel des Protagonisten, das eine Komplikation ins Spiel bringt.
Und damit wackelt der Rest der Story. Plotpoint 2 sollte eigentlich inneres Ziel und physisches Ziel in Konflikt bringen, also, im weitesten Sinne gesprochen: Hauptziel und Komplikation geraten in Konflikt. Es ist keine Komplikation da, also gerät Dein PLOTPOINT 2 als bloße Intensivierung, und da Johnny schon alles andere ausgeschöpft hat, schüttelt er hier die Fäuste. Die Story tritt dieweil auf der Stelle, denn denselben Typ Eskalation hatte John bereits einmal angewendet, als er ausgerastet ist.
Nach dem Plotpoint 2 sollte eigentlich der Konflikt zwischen physischem Ziel und innerem Ziel (bzw. Komplikation) verhandelt werden. Auch das kann jetzt mangels Midpoint nicht mehr erfolgen. Und so schleppt sich der Rest der Story etwas kraftlos bis zur Pointe hin.
Zur IllustrationAls kleines Analysebeispiel, wie die Pointe sich in der Struktur abbildet, das Rätsel aus Michael Endes "Momo":
Drei Brüder wohnen in einem Haus,
die sehen wahrhaftig verschieden aus, //HOOK: Gegenstand des Rätsels etabliert, "Brüder" sollten eigentlich ähnlich sein, sind sie aber nicht: Dissonanz.
doch willst du sie unterscheiden,
gleicht jeder den anderen beiden. //PLOTPOINT 1: Die Protagonistin des Rätsels ist das "Du" des Rätsels. Ihr Ziel: Enträtseln (codiert als "unterscheiden") der Brüder, die daraufhin wieder gleich aussehen (Antagonismus)
Der erste ist nicht da, er kommt erst nach Haus.
Der zweite ist nicht da, er ging schon hinaus.
Nur der dritte ist da, der Kleinste der drei,
denn ohne ihn gäb´s nicht die anderen zwei.
Und doch gibt´s den dritten, um den es sich handelt,
nur weil der erst´ in den zweiten verwandelt. //MIDPOINT 1: Hier wird das Spiel mit den Symbolen als eigentliches Hauptthema des Rätsels ins Spiel gebracht und wird wichtiger als das äußere Ziel des Enträtselns.
Denn willst du ihn anschaun, so siehst du nur wieder
Immer einen der anderen Brüder!
Nun sage mir: Sind die drei vielleicht einer?
Ober sind es nur zwei? Oder ist es gar - keiner? //PLOTPOINT 2: Das äußere Ziel, die "Unterscheidung" von PLOTPOINT 1 wird im Kontext der Symbolsprache ad absurdum geführt: Konflikt äußeres Ziel/Komplikation.
Und kannst du, mein Kind, ihre Namen mir nennen,
so wirst du drei mächtige Herrscher erkennen.
Sie regieren gemeinsam ein großes Reich -
Und sind es auch selbst! Darin sind sie gleich. //POINTE(KLIMAX) und ENDE: Die Auflösung der HOOK-Dissonanz wird in Aussicht gestellt: Wenn "Du" das Rätsel löst, ist klar, wer die Drei Brüder sind, und was ihre Familienähnlichkeit ist.
Von Michael Ende ist zumindest aus seiner Unendlichen Geschichte bekannt, dass er wohl kein Plotter gewesen sein dürfte. Trotzdem hat er (nicht nur hier!) ein extrem sauberes Stückchen Text abgeliefert, strukturell wie thematisch eine regelrechte Perle. Auch das protagonistische "Du" (Momo, wenn ich mich recht erinnere) macht in den drei "Akten" des Rätsels eine Entwicklung durch, z.B. stellt der zweite Teil von Akt 2 (nach dem MIDPOINT) sogar eine Art emotionale Verbindung mit dem kleinsten Bruder her, der hiermit wie eine klassische Stakes-Figur behandelt wird. Der Midpoint knüpft zudem thematisch an den Roman an, somit ist seine Aufgabe, auf den tieferen Sinn des Texts anzuspielen, auf das "was wichtiger ist" als der äußere Konflikt, gleich in mehr als einem Aspekt erfüllt. Wenn man darauf besteht, kann man sogar die "kleineren" Hauptstrukturpunkte Inciting Incident, Obligatory Scene und die Pinchpoints analysieren, aber das führt zu weit, am Ende sehen wir den Sinn vor lauter Struktur nicht mehr.
Fazit"Sinn" ist ein gutes Stichwort. Ich habe an Deiner Story ja nur Strukturelles auseinandergenommen, aber das ist natürlich reine Symptomatik. Die Ursachen liegen wahrscheinlich an anderer Stelle. Wenn ich von den Symptomen ausgehe (nichtpersonalisierter Hook, keine Komplikation im Midpoint, flacher Affekt gegen Ende, Schwierigkeiten mit der Steigerung des Konflikts) und eine Diagnose stellen sollte, würde ich mutmaßen, dass die Story im Bereich des Themas schwächelt.
=> Nur aus akedemischem Interesse: Hat Deine Story ein Thema, das hinausgeht über den Anlass, dem sie ihre Entstehung verdankt? Gerade Writing-Prompts wie dieser hier aus dem fiction-writing.de-Forum bringen oft Texte hervor, die (bewusst) nur einen Teilaspekt des Schreibens beleuchten.
Liebe Grüße
Q.