Normalerweise sind meine Erlebnisse beim Lesen anderer Leute Bücher nicht weiter von Interesse. Jetzt aber vielleicht doch.
Ich las:
Kerstin Gier "Vergissmeinnicht", den Auftakt ihrer nächsten Trilogie. Wem das aus dem Kontext nicht jetzt schon klar ist: Erbitte Erlaubnis, mich auskotzen zu dürfen.

Um das von vornherein auszuräumen: Ja, es ist ein Teenie-Quietsche-Knutsche-Buch. Ich bin nicht die Zielgruppe. Trotzdem lese ich auch Teenie-Quietsche-Knutsche-Bücher durchaus mal ganz gern, wenn sie gut gemacht sind. Kerstin Gier kann sowas.
Leider ist "Vergissmeinnicht" irgendwie ... uneinheitlich.
Zunächst mal das Augenfällige: Kerstin Gier ist die ungekrönte Königin des zersägten Romans. Nominell kommen ihre Erzählungen als Trilogien daher, aber strukturell betrachtet sind es schlicht sehr lange Romane, die sie in drei Bände zersägt. Manchmal mehr, manchmal weniger gekonnt. Typischerweise kommt bei ihr die dramatische Frage am Ende von Band 1, Band 2 ist dann die B-Story und Band 3 liefert Klimax und Ende.
Kann man so machen.
Was daran schade ist: Leserlein arbeitet sich durch hunderte von Seiten von Band 1, und es gibt keinen richtigen Abschluss. An den nervigen Teil-Zwei-Klüffhänger von Trilogien hat man sich ja schon seit Star Wars V einigermaßen gewöhnt, aber bei Band 1 schon an der vielleicht offensten Stelle der Erzählung abzubrechen, halte ich für eine kontroverse Entscheidung. Nehmen wir einmal an, Band 1 ist irgendwie OK. Ja, nett, zu den Akten, Band 2 und 3 bleiben aber besser im Regal.
Dann steht man mit so einer angenagten Plotruine rum und weiß nicht recht, was man machen soll. Um die Sache ganz eindeutig zu formulieren: NEIN. Es ist nicht verkaufsfördernd. Der Gemüsehändler verkauft mir auch nicht eine halb abgebissene Gurke in der Hoffnung, dass ich den Rest der Gurke dann auch noch kaufe. Auch ein Autohändler verkauft mir nicht nur die Frontpartie bis zum Lenkrad. Was davon übrigbleibt ist der Eindruck:
(a) Ich hab hier Geld bezahlt und bekomme nur eine bessere Leseprobe? Bah.
(b) Hat die Autorin überhaupt Ahnung vom Schreiben, von Leserverträgen, von Struktur? Ist sie in der Lage, Spannungbögen ordentlich zuendezubringen?
Punkt (b) ist irrelevant, wenn man bereits eine treue Fangemeinde hat, die sich eh brav alle drei Bände kauft. Warum dann aber aufteilen in drei Bände?

Für mich als nicht restlos überzeugter Fan ist (b) allerdings besonders ärgerlich, und zwar in einem Maße, dass ich in Zukunft von Kerstin Giers Romanen die Finger lassen werde. Besonders, da "Vergissmeinnicht" auch als Leseprobe nicht wirklich überzeugend war. Hier meine Gründe.
Zur Story muss man nicht viel sagen. Cooler Typ mit abgeplatzten Ecken wird von bravem Mädchen angeschwärmt, erst aus der Distanz, dann auf Seite zweihundert, folgende, folgende. Es ist Romantasy, also schmeißen wir noch ein bisschen Zeugs drauf, in diesem Fall Feen, Fabelwesen und Magie, die offenbar teilweise genetisch vererbt werden kann. Cooler Typ mit abgeplatzten Ecken ist eine Bruchrechnungsfee (zu einem Viertel? Achtel? zwei Dritteln?). Außerdem ist er der Auserwählte, Prophezeiung inbegriffen. Typie hat am Anfang einen Unfall und sitzt im Rollstuhl, was super praktisch für Gähnemädchen ist, denn die kann dann ihre soziale Kompetenz ausspielen und ihn durch die Gegend schieben.
Nur zur Klarstellung: Soweit ist alles noch OK. Super genrekonform, aber OK.
Nun könnte man ja mal auf die Idee kommen, eine Behinderung auszuloten anhand ihres, nunja, behindernden Charakters. Aber dann wär's ja kein Teenie-Quietsche-Knutsche-Buch. Also ist Typie genau dann behindert, wenn's gerade hormonförderlich ist. Erstmal wird unser Adonis auf Rädern dank seines erschröcklichen Schicksals seine alte Flamme los (die er eh abservieren wollte). Als nächstes wird er seinen nervtötenden besten Freund los (der mit besagter alten Flamme hinter seinem Rücken rumgemacht hat). Dann lernt er dank Rollstuhl seinen neuen Motor Gähnemädchen kennen (die ihn durch die Gegend schiebt). Und er hat ein paar superschicke Narben und kann ganz viel durch die Gegend leiden, was er natürlich extrem mannhaft trägt.
Dann kommt Handlung.
Und irgendwie stört der Rollstuhl da nicht weiter. In der Parallelwelt (klar gibt's die!) kann er ganz normal laufen. Wenn die Handlung es erfordert, kann er auch in der Realwelt aufstehen, und wenn das alles noch nicht cool genug ist, kann er da auch laufen. Weil, Magie, ne? Und zudem wird gleich ganz zu Anfang unmissverständlich herausgestellt, dass das mit dem Rollstuhl wohl eh nur so ne Phase ist.
Wow.
Deko-Rolli. Mal was neues. Reiht sich nahtlos ein in Zier-Asperger, plotbedingte Quartalsblindheit und Fin-De-Siècle-Schwindsucht. Naja, immerhin darf er zur Physio. Bedenklich ist das alles schon so ein bisschen, besonders mit den zu recht gestiegenen Ansprüchen unserer Gesellschaft bezüglich fairer Repräsentation, aber immerhin ist es noch so halbwegs OK, wenn man nicht überkritisch ist mit einem Romance-Schmonzettchen.
Aber genug von Typie. Schalten wir jetzt live zu Gähnemädchen.
Offenbar ist Gähnemädchen der Leseravatar. Woraus ich das schließe? Typie ist total megacool, und Gähnemädchen ist das Mauerblümchen mit angekratzem Selbstbewusstsein. Wenn man der allgemeinen Verlagsauffassung folgt, dass sich Männer nur mit männlichen Figuren identifizieren können und Frauen nur mit weiblichen, dann würde ich als männlicher Leser also mit einem Love-Interest abgespeist, das sich dadurch auszeichnet, dass sie sich recht passiv in Ecken rumdrückt und rumheult, statt mal ihre Neigungen deutlich raushängen zu lassen. Mit anderen Worten: der prototypische Nice-Guy, bloß gendervertauscht.
Boah. Vielleicht liegt es daran, dass ich über fünfzig bin, da lässt das alles ja so langsam nach, aber attraktiv geht anders. Ergo: Gähnemädchen ist Leseravatar. Quod erat dumdidum.
Geht gerade noch so. Kann ich akzeptieren, denn im Gegensatz zur allgemeinen Verlagsauffassung kann ich mich auch mit einem weiblichen Leseravatar arrangieren. Sogar dann, wenn besagter Avatar so platt ist, dass ihre Tiefe nur noch mit mathematischen Grenzwertbetrachtungen halbwegs zu beziffern ist.
Jetzt aber fängt es an, nervig zu werden. Klar ist Gähnemädchens Familie ein Graus, superkonservative heiliger-als-du Klischeekatholiken. Also, ich kenn diesen Verein ja von innen, und was soll ich sagen, wir sind tatsächlich ALLE kinderhassende Hypokriten, wissen trotz Kondomverbot gar nicht mehr, wo wir die ganzen Kinder herkriegen sollen zum Quälen. Aber hey --! Immerhin laufen auch Gähnemädchens Eltern (und Cousins und Cousinen) nicht das ganze Jahr mit Aschekreuz vom letzten Aschermittwoch auf der Stirn rum. Ist also eine total realistische und ausgeglichene Darstellung.
Und wie jeder weiß, ist konfessionsübergreifend sowieso der einzige Sinn von Eltern, ihre Kinder nach Strich und Faden fertigzumachen. Da bleibt noch Raum für Steigerungen; vielleicht wird das ab Band zwei ja vertieft durch ein paar Muslime, die ihre Töchter schon mit drei zwangsverheiraten, und in Band 3 rennen ein paar Atheisten rum, die mangels Religion dauerdeprimierte amoralische Arschgeigen sind. Warum sich mit einem Klischee zufriedengeben, wenn man alle haben kann? Tolerante Menschen erkennt man daran, dass sie gerne unter sich bleiben.
Aber irgendwie schaffe ich es sogar noch, über dieses wandelnde Empörungsfutter hinwegzusehen und weiterzulesen.
Also weiter. Wir waren beim Leiden stehengeblieben, und das tut Gähnemädchen dann auch ausgiebig. Die Eltern fordern, sie sagt ja und leidet. Also, nicht dass sie mal was tut dagegen, wir sehen sie nur leiden, und leiden, und leiden. Ab und zu fetzt sie sich mit ihren Cousins, aber selbst dafür braucht sie die Hilfe einer rebellischen besten Freundin. Naja, immerhin. Die Handlung entspinnt sich, hat ab und zu auch durchaus spannende Momente, die natürlich ab und an durch Rumgeknutsche unterbrochen werden müssen, aber das ist genredefinierendes Merkmal, also schwamm drüber.
Dann kommt's zum Krach mit den Eltern, und man möchte sagen: Endlich! Endlich wird sich Gähnemädchen mal ein wenig persönliche Freiheit erkämpfen. Und dann -- Trommelwirbel -- verzieht sie sich leidend in ihr Zimmer und heult.
An dieser Stelle habe ich das Buch zugeschlagen. Noch kaum dreißig Seiten bis zum Schluss, und ich hatte neben jeglichem Lebenswillen auch den Wunsch verloren, den Ausgang zu erfahren, denn die Leute, die da rumhüpfen, gehen mich einfach nichts an. Einen Tag später hab' ich mich dann zusammengerissen und den Rest noch gelesen.
Wie oben schon geschrieben: Einen Höhepunkt im engeren Sinne kann man nicht wirklich erwarten. Stattdessen gibt es immerhin eine Enthüllung und eine Klopperei auf dem Dach eines Praxiszentrums. Ist nicht schlecht gemacht, reicht fast als Substitut für einen echten Höhepunkt. Immerhin kann hier Gähnemädchen zu hoher Form auflaufen, indem sie ...
Äh ...
Hat jemand noch wirklich daran gezweifelt? Sie heult. Und wird natürlich von Typie gerettet mit seinen obersupercoolen magischen Fähigkeiten. Kann man sowas selbst dem hormonbenebeltsten Publikum heutzutage noch vorsetzen? NEIN, und das muss auch der Autorin irgendwann aufgefallen sein, also kriegt Gähnemädchen eine Tomatenstange in die Hand und darf damit eine Schlange aufspießen. Psychologische Symboldeutung bitte nicht ausufern lassen.
Und dann isses vorbei.
Irgendwie haben sich Typie und Gähnemädchen über ein nebensächliches Detail zerstritten, und sie versöhnen sich zum Ende auch nicht. Worum es in der Trilogie gehen wird, ist ... so halbwegs klar? Weiß nicht. Ziel: Auserwählter-Weltrettung-Magie-Irgendwas. Antagonismus ist auch noch unklar: Irgendwelche-Anderen-Auch-Mit-Magie-Und-Agenda? Da stellt sich sofort die Frage: Wollen die die Welt eben gerade NICHT retten? Oder auf andere Weise retten? Oder mit anderen Auserwählten retten? Und wieviele davon sind katholisch? Gibt es wilden, leidenschaftlichen Sex eher im Rollstuhl oder im Beichtstuhl? Fragen über Fragen, und die Spannung zerreißt mich.
Herr Quengler, wo bleibt das Positive?Was Kerstin Gier meisterhaft beherrscht, und was man sich von ihr abgucken kann, ist das Erzeugen von Wut. In all ihren Werken tritt mindestens eine Figur auf, die man mit Verve hassen kann. In diesem Fall sind es gleich mehrere: Gähnemädchens Familie, Typies Verflossene, Typies bester Freund, Typies Psychotherapeutin, ...
Das ist schreibtechnisch hervorragend gemacht. Die Frage ist, will ich das in der Konzentration lesen? Immerhin werden bei derlei Manövern die niedersten menschlichen Instinkte angesprochen. Als Würze, dezent verwendet, belebt das. Aber selbst das schärfste Chili hat zwischen den Habaneros noch ein paar Bröckchen Hackfleisch.
FazitHääääääää?
Ich geh dann mal und lasse meine posttraumatische Belesungsstörung therapieren.