Nachdem ich gerade im "Auszeiten"-Thread verkündet habe, dank dauerhaft mieser Laune momentan lieber meine Klappe halten zu wollen... Das hier ist ein unverfänglicher Thread, weil die Texte, über die ich hier meckern kann, nicht von Anwesenden stammen. Na, dann darf ich ja, sogar im Sinne einer freiwilligen Selbstbeschränkung.

Es begann alles ganz harmlos damit, dass in der netten Buchhandlung nebenan eine Autorenlesung stattfand. Regionalkrimi. Da ich Lesungen nett finde und von Regionalkrimis keine Ahnung hatte, bin ich hingegangen und habe auch brav mein Exemplar gekauft.
Was soll ich sagen? Meine Interpretation ist, dass ich von Regionalkrimis wahrscheinlich noch immer keine Ahnung habe. Sonst würde ich sagen, das sei wie bei einem "regionalen Schauer": Es fällt deutlich weniger vom Himmel, und alle, die nass werden, kennen sich gegenseitig. Da Autorin und Werk abgesehen von meinem Unverständnis irgendwie sympathisch waren, werde ich hier nichts weiter über das Werk verlauten lassen.
ABER.
Das alles hat mir verdeutlicht, dass ich in der Sparte "Spannung" völlig unbelesen bin. Also, nächste Zugfahrt, rein in den Presseshop und ins Regal "Spannung" gegriffen. Was ich nach oberflächlicher Suche rausgezogen habe, war
"Das Auge" von Richard Laymon. Offenbar geht der Schinken ganz gut, und Herr Laymon wird von meinen Bedenken eh nichts erfahren. Also, here goes.
Kleiner, schlechtgelaunter Hobbykritiker proudly presents: Le Klappentext!
Sie sieht Dinge, die andere nicht sehen … grausame Dinge … Menschen, die sterben … Blut … Sie glaubt an ihre Visionen … Sie glaubt, dass diese Bilder reale Begenbenheiten zeigen...Morde...Vielleicht hat sie recht … vielleicht ist sie einfach nur wahnsinnig …Wer weiß?
Die ersten Seiten zeigen eine Geigerin, die bei einem Konzert vom Hocker rutscht, weil sie eine Vision hatte, in der ein Familienmitglied gewaltsam zu Tode kam. Passiert ihr offenbar öfter, und das letzte Mal lag sie richtig. => Interessant, gekauft, auf der Reise reingeschmökert.
Bevor ich weiternöckere: Was hättet Ihr nach diesem Einstieg und diesem Klappentext erwartet? Ich in etwa das hier: Mordserie, Konflikt zwischen den Visionen und einer skeptischen Polizei, falsche Verdächtigungen, Fiedel-Frieda wird der Mitwisserschaft oder Mittäterschaft beschuldigt und muss nun ihre Unschuld beweisen,... Es hätte alles so schön sein können.
Leider stellte sich dann heraus, dass der Thrill und das Übersinnliche sich als eine Steigerung von "sinnlich" begriffen. Eine wie auch immer geartete Unschuldsvermutung gilt hier mit absoluter Sicherheit für keine einzige Figur. Wir sind ja ein eher familienfreundliches Forum, also umschreibe ich die Angelegenheit mit dem aus dem Finnischen(?) entlehnten Terminus Fikkifukki.
Visionen und Gewaltverbrechen hatten nach den ersten Seiten ihre Schuldigkeit getan und gingen wieder zurück auf die Reservebank, um etwas anderem, viel tieferem, Platz zu machen. Ungelogen: Jede verdammte soziale Interaktion hatte was mit Doiiiing-Kuckuk! zu tun. Das Konzept, zwei Erwachsene könnten sich auch auf geistiger Ebene miteinander beschäftigen, wurde höchstens in ein, zwei Sätzen peripher tangiert. Ab und an hauen sich ein paar Testosteronträger, und am Ende wird wer umgebracht. Zwischendurch gibt's sporadisch uneinvernehmliches Fikkifukki, eine ganze menge einvernehmliches Beinahe-Fikkifukki, ständig wölbt sich knappe Herrenbadebekleidung, während die Damen auf Bekleidung meist ganz verzichten, und wenn nicht, dann nur, um in streng personaler Perspektive darbieten zu können, welche Textilien jetzt welche Körperpartien schmeichelnd umspannen.
Das Trio der Hauptfiguren (Fiedel-Frieda, Fiedel-Friedas Freund und Fiedel-Friedas Schwester) sieht sich zwar recht früh mit dem Problem konfrontiert, dass Papa Fiedel mit dem Sportwagen ins Koma hineinüberfahren wurde, aber das wird fürderhin fast nie mehr erwähnt, stattdessen ist Fiedel-Friedas Hauptanliegen, dass ihr Freund nicht ihre viel attraktivere Schwester doiiing-kuckukt.
Spoiler 1: Freund und Schwester tun es. Die Möglichkeit, dass ein Mann an Qualitäten interessiert sein könnte, die sich nicht durch Konfektionsgrößen objektiv messen lassen, wird noch nicht einmal erwogen. Klar, es gibt eine menge inneren Konflikt, weil Freund treu sein will, obwohl Schwesterchen den hübscheren Arsch hat. Aber auf den Gedanken, treu zu sein, weil ihm Fiedel-Frieda besser gefällt, trotz eines vielleicht nur moderat attraktiven Hinterns, kommen allem Anschein nach weder die Figuren, noch der Autor.
Trotzdem hat es der Autor bei all der Spannerei irgendwie fertiggebracht, dass der Roman trotzdem, äh, spannend war. Bis zur letzten Seite (exklusiv): Wenn man sich durch die ganze Nippel-Popo-Dingdong-Thematik gekämpft hat, dreht Fiedel-Frieda durch und säbelt mit einem Küchenmesser ihre Stiefmutter nebst deren Außenbeziehung nieder, und zwar recht farbenfroh. Denn Stiefmutter und Außenbeziehung machen zusammen Fikkifukki, und das geht Fiedel-Frieda gehörig gegen den Strich, mit Papa im Koma und so. Ihren Ärger kann ich echt nachvollziehen, denn Papa Fiedel ist dank Koma der einzige, der in diesem Roman kein Fikkifukki machen darf, und da fällt ihm seine eigene Frau in den Rücken und einem Anderen auf den Bauch. Sowas ist einfach nicht fair.
Sorry. War Spoiler 2. Ich tröste mich damit, dass es eigentlich nichts zum Spoilern gab, denn das Werk torkelt dermaßen konzeptlos durch den ersten Akt (pun intended), dass man noch nicht mal ein schwammiges Konzept entwickeln kann, was denn die dramatische Frage sei. Also nimmt es auch nicht wunder, wenn selbige Frage nicht beantwortet wird: Am Ende sehen wir betroffen, dass es gar keine Fragen gibt, auf deren Beantwortung wir hoffen. Bis auf eine vielleicht: Was zum Henker hatte es mit diesen Visionen auf sich?
Antwort: Nix.
Es hatte nix damit auf sich. Und all die Andeutungen, dass Fiedel-Frieda auch mal richtig lag mit den Visionen? Wird das aufgeklärt? Nö. "Fiedel-Frieda ist verrückt. Schluss."
Nie wieder ungeschützten Schriftverkehr.
Eins kann man immerhin aus diesem Desaster lernen. Es ist möglich, ein verkorkstes Konzept, eine schwächelnde Dramaturgie, eine platte Thematik und unappetitliche Figuren durch Spannung auf Szenenebene durch knapp vierhundert Seiten zu retten. Respekt. Da ich mutmaße, dass die Zielgruppe sonst eher die Billy Boy Packungsbeilage liest, hat der Autor das einzig Richtige getan und seine Manöver auch nicht durch übertriebene Subtilität vor den Augen seiner Leser versteckt. Trotzdem ist man desillusioniert, etwa so, als habe man jahrzehntelang Bildhauerei studiert, nur um festzustellen, dass man auch mit Dynamit Steine kleinkriegt.
Fazit, und ich sage das im vollen Bewusstsein aller möglichen Implikationen:
Für'n Arsch.