Autor Thema: AT: Lieferservice  (Gelesen 7632 mal)

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Offline eska

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AT: Lieferservice
« am: 21 October 2017, 23:49:51 »
Wie versprochen hier ein weiterer Text zum Zerpflücken.
Aufgabe war, ein Psychothrill-Element in eine ganz normale Umgebung einzubauen.


Vorsichtig, ganz vorsichtig. Die Straße ist eng, auf beiden Seiten parken Autos, und Kinder rennen schon mal los, ohne zu gucken. Weiß man ja. Laubhaufen türmen sich unter den Bäumen, Platanen sind das doch, mit diesen hellen Flecken am Stamm.
Da, mein Parkplatz. Der Weg ist nicht weit, nicht mal mit den großen Kisten. Styropor ist ja nicht schwer. Nur die Eimer zerren einem die Arme lang, schon auf den paar Metern. Eimerweise Fruchtjoghurt, das muss man sich mal vorstellen! Wenn es bei uns Joghurt gab, dann für jeden einen Becher, 150 Gramm, weiß mit einem Klecks Fruchtsoße drauf. Und in der Schule gab es sowieso nichts.
Na, eine normale Schule ist das hier ja auch nicht; privilegiert und privat. Kann er sich schließlich leisten. Eine alte Villa, großer Garten, geputzte Fenster. Schreien tun die Kids wie alle anderen auch, so sieht es jedenfalls aus. Lächeln nicht vergessen. „Hi.“ Die Küchenhilfe begrüßt mich nebensächlich, ein bisschen in Eile, hebt den Deckel von der ersten Kiste, es dampft und riecht nach Kartoffelsuppe. Lecker.
Die Ersten sammeln sich an der Küchentür, ziemlich klein manche. Ist sie dabei? Blonde Haare haben viele. Auf dem Foto sind sie schulterlang, leicht gewellt, unordentlich. Ich gehe mal die nächste Kiste holen. Am Eingang die Fototafel. Da, zweite Reihe, zweite Klasse. Pferdeschwanz, das ist praktisch, muss ich mir merken, mit dem Tape.
„So. Der Salat. Und die Würstchen.“ War ich zu leise? Es dauert etwas, bis mir jemand die Kiste abnimmt, sie sind mit Auftun beschäftigt. Wuselnde Kinder stürzen sich auf die Würstchen. Jeder eins, hat der Erzieher gesagt, oder? Seine Hände sind beschwichtigend gehoben. Ich muss dieses verdammte Hörgerät mitnehmen, auch wenn das Piepen mich wahnsinnig macht. „Es tut mir leid. Wir konnten die Gehörknöchelchen nicht wiederherstellen. Die Auflösung ist zu weit fortgeschritten.“ Es tut ihm leid? Wer‘s glaubt! Er muss ja nicht damit leben, mit dem Murks, den er aus meinen Ohren gemacht hat, zwei Jahre lang verschleppt, und natürlich hat das Gericht ihm keine Schuld zugesprochen, kein Schmerzensgeld. Oh, es wird ihm leid tun, ganz sicher wird es das!
Für jeden einzelnen verdammten Tag wird er bezahlen, bar und mit Herzblut, damit er merkt, was er da anrichtet bei seinen Opfern. Patienten, ha! Wie das ist, wenn du nichts mehr mitkriegst, ob sie mit dir reden oder über dich, kein Lachen ohne Argwohn, kein Blick ohne Mitleid, sobald du den Mund aufmachst; irgendwas ist immer falsch, nie mehr Sicherheit. Die da, die Größeren am Tor, meinen die mich mit ihrem Gestikulieren? Ignorieren, einfach ignorieren. Einfach weiter, rosa Steinplatten mit braunen Fugen, bis zum Wagen, meiner Burg. Eine Stufe hoch, höher als die andern. Es riecht nach Wald, Kiefernduft. Hier kommt keiner rein. Bis übermorgen. Sie heißt Lena. „Hi, du bist Lena, stimmt‘s? Ich kenne deinen Papa.“ Und mag Eis. Also werde ich ein Eis für sie haben, hier im Wagen. Und dann...
Oh Gott! Ein Hund. Beinahe. Diese Schreckmomente, wenn jemand urplötzlich neben dir auftaucht. Kannte ich früher nicht. Desorientiert. Ja, auch das soll er spüren: wie das ist, nicht wissen, was los ist. Bis zum Herzrasen erschrocken - den ersten Stoß zu Anfang, und dann häppchenweise. Verängstigt. Wütend und hilflos. Nein, keine Chance, er wird warten müssen auf meine Bedingungen, wenn er sie wieder haben will. Er hat mich längst vergessen, einen von vielen, die er zugrunde gerichtet hat. Aber einer, der sich wehrt. Lena, für mich und all die anderen. Oh ja, er wird sich erinnern!


Eine Frage: War für Euch deutlich vor dem Ende klar, ob die Person Mann oder Frau ist? Ich hab mich nämlich nur notgedrungen entschieden. Und die Probeleser haben beides rausgelesen.
Fröhliches Grillen!

eska
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Offline FF

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Re: AT: Lieferservice
« Antwort #1 am: 22 October 2017, 01:04:06 »
Ähm... ich verstehs nicht... :flenn:

Ich glaube, das ist für mich zu subtil. Essen bringen, Taubheit, Rache, Lena. Hä? Wird Lena jetzt vergiftet? Oder entführt? Wie wo was? Ich kriege den Bogen nicht hin. Er/Sie (ich glaube, sie) will sich für den Medimurks rächen, ok. Aber ich verstehe die Art der Rache nicht.
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Uli

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Re: AT: Lieferservice
« Antwort #2 am: 22 October 2017, 02:13:18 »
ay Eska,

Ich fange mal mit der Frage an: Ich habe ziemlich exakt keinen Moment an eine Frau gedacht ...
Keine Ahnung, woran das genau liegt, aber die Frage hat sich nicht gestellt, und bei Kindergefängnis und Psychotrill lande ich wohl automatisch bei Täter, nicht bei Täterin. Ein Vorurteil, vielleicht oder ein Rollenklischee ...

Sonst:
Gelungen. Finde nicht viel zum zerrupfen, der Einstieg gefällt mir ausnehmend gut: Alltag, der Prota denkt an die Kinder, akzeptiert die Eigenheiten und ist erstmal ganz normal und sogar einfühlsam (vergleichsweise).
Das Sonderinteresse an einem einzelnen Kind ist häpchenweise eingeführt, ohne gleich eine Zielrichtung zu haben, und die Ausgangslage des Prota auch. Beides steigert sich bzw wird exakter, und bedrohlicher ... ohne das ein konkreter Plan erkennbar wird. so, wie ich mir so etwas wünsche.

Für Kleinkram ist es grad etwas spät ... oder noch zu früh (viertel nach zwei ... gnarf), also hole ich das demnächst nach, OK?

cheers, Uli

Offline eska

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Re: AT: Lieferservice
« Antwort #3 am: 22 October 2017, 14:00:32 »
@FF:
Zitat
Ähm... ich verstehs nicht... :flenn:

 :o
Huch. *betroffenes Schweigen*
Das tut mir leid und lässt mich zweifeln.

Kannst du benennen, woran das liegt? An der Innen-Perspektive, die hin und her springt und nichts erklärt? Wo brauchst du am ehesten Klarstellung? Danke.

Wenn Uli nicht auch geschrieben hätte, wäre ich jetzt sehr verunsichert.

Ich liefere mal hier eine Auflösung, weil ich noch nicht weiß, was ich ändern muss.

Also: Protagonist ist nach fehlerhafter (bzw. mindestens erfolgloser) Behandlung quasi taub, sein ganzes Leben hat sich verändert, die Psyche mit, die Umwelt wird mehr und mehr feindlich. Er gibt dem Arzt die Schuld (das Gericht nicht) und sinnt auf Rache, stellvertretend für alle Opfer (Rechtfertigung), unterstellt inzwischen also schon Absicht, zumindest kein Bemühen/Mitgefühl. Die Rache soll stellvertretend am Kind (Lena) stattfinden, damit es dem Vater mehr wehtut, er soll genauso leiden wie der Prota (Unsicherheit, Desorientierung, Loslösung aus den normalen Bezügen und Beziehungen). Wie lange, ist noch offen, Rückerstattung des Kindes ist möglich. Insofern wird sie 'nur' entführt - dazu der Job als Essenslieferant (Zutritt, Ausspionieren, Vertrauen, Alibi...), gleich noch mit Lieferwagen für den Abtransport.

@Uli:
Zitat
bei Kindergefängnis und Psychotrill lande ich wohl automatisch bei Täter, nicht bei Täterin. Ein Vorurteil, vielleicht oder ein Rollenklischee ...
Gut möglich. Ich kann mir aber auch eine Frau vorstellen (nicht eine Mutter, glaube ich), die solche Rache übt. Ich wollte eben keine sexuelle Komponente und kein gestörtes Verhältnis zu Kindern generell (siehe erster Absatz), nichts von vorneherein 'Krankhaftes', sondern durch die zerstörerischen Bedingungen der Krankheit zum Extrem Getriebenes, das man als Leser nachempfinden kann. Der eine Schritt zum 'Das-geht-gar-nicht' ist so klein. Und so wichtig. 
Idealerweise ist der Verarbeitungsprozess dann folgender: Verständnis für die Gefühle, Erschrecken/Grusel vor dem Potential an Hemmungslosigkeit, auch dem eigenen, bewusste Selbstbeherrschung. Klingt jetzt sehr moralinsauer, aber das kommt eben dabei raus, wenn ich Psychothriller schreiben soll.  :-\

Zitat
so, wie ich mir so etwas wünsche.
:jubel:
Das war schon ein sehr schmeichelhaftes Urteil. Danke.  :blume:
Du darfst dem natürlich noch Kleinkram hinzufügen, wie du magst. Das Ganze war ja ohnehin zum Training gedacht.

Danke euch!

eska
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Offline Quisille

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Re: AT: Lieferservice
« Antwort #4 am: 23 October 2017, 11:33:55 »
Moin!

Erstmal vorwech: Ich hab's verstanden, und es wirkt plausibel. Zu Deiner Frage: Für mich war es eine Ich-Erzählerin. Woran das liegt, ist schwer festzumachen, wahrscheinlich an der detailverliebten Erzählstimme. "Platanen" und die Eigenschaften von deren Borke zu erwähnen, während man ein ziemlich saftiges Verbrechen plant. Wobei die Erzählstimme mit einem Mann auch kompatibel wäre.

Ich nehme an, es handelt sich um ein Übungsschnipselchen, denn der Text ist vollgestopft mit Exposition. Das ist sonst nicht Dein Stil, und ich mutmaße, dass es sich um eine Notwendigkeit handelt, um das kontextlose Schnipselchen verständlich zu machen. Eben dieses Kontextlose, das Vollgestopftsein mit Exposition, sorgt bei mir dafür, dass der Text nicht zündet, da thrillt nix. Dafür liegt die Exposition, das Seeding, zu nahe am Payoff. Vermutlich würdest Du in einem Roman Exposition und Payoff trennen, dann würde die Angelegenheit besser wirken, insofern kein Handlungsbedarf.

Eine Idee allerdings hätte ich noch: Der Text ist teils sehr explizit, dadurch kommt die Handlung sehr faktisch rüber. Das halte ich für kontraproduktiv, besonders was das "Psycho" vom Thriller angeht. Ich meine zum Beispiel diese Stelle hier:

Zitat
Für jeden einzelnen verdammten Tag wird er bezahlen, bar und mit Herzblut, damit er merkt, was er da anrichtet bei seinen Opfern. Patienten, ha!

Oder die hier:

Zitat
Ja, auch das soll er spüren: wie das ist, nicht wissen, was los ist. Bis zum Herzrasen erschrocken - den ersten Stoß zu Anfang, und dann häppchenweise. Verängstigt. Wütend und hilflos. Nein, keine Chance, er wird warten müssen auf meine Bedingungen, wenn er sie wieder haben will. Er hat mich längst vergessen, einen von vielen, die er zugrunde gerichtet hat. Aber einer, der sich wehrt. Lena, für mich und all die anderen. Oh ja, er wird sich erinnern!

Dass der/die/das Protagonist (ich sag von nun an "er" dazu) sich rächen will, ist bereits aus dem Kontext klar. Auch seine Gefühle, den Otorhinolaringologen betreffend, sind bereits zuvor klargestellt. Stattdessen bleibt eine Lücke: Der Protagonist plant gerade, ein Kind zu entführen. Wie fühlt er sich dabei? Er fügt immerhin einem völlig unschuldigen Opfer Qualen zu. Wie rechtfertigt er das? Projiziert er die Schuld des Vaters auf das Kind? Um Lena zu ködern, wird er nett sein müssen zu ihr. Also heucheln. Wie bringt er das mit seinem Selbstbild in Einklang? Oder plant er eine dieser "netten" Kindesentführungen, mit Plüschtieren auf dem Rücksitz, mit tonnenweise Süßkram, damit das Kind es gut hat bei ihm?

Derzeit ist der Protagonist fast ausschließlich wütend, die dominante Emotion ist also in Reinform da, der Rest seiner erlebten Rede ist hauptsächlich Kontext und Vorgeschichte. Wenn Du seinen Emotionen hier noch einen zweiten, etwas versteckteren Aspekt hinzufügen könntest, würde der Protagonist plastischer wirken. Was fühlt er bei der Planung der Entführung? Angst vor Misserfolg oder Strafe? Schuld bei dem Gedanken an das Opfer? Erleichterung, dass er endlich die Kontrolle zurückgewinnt? Freude an den Schmerzen anderer? Oder, wenn's wirklich eklig werden soll: Lust beim Gedanken an das Mädchen, das er entführen will?

Zur Erzählstimme, insbesondere zur erlebten Rede: Die fühlt sich (passagenweise) für mich nicht echt an, eher wie das Kunstprodukt, das im literarischen Segment üblich ist, um Emotionen anzudeuten. Hand auf's Herz: Diese Art von erlebter Rede ist Expospeak, nicht wahr? Zwar Expospeak mit Blattgoldauflage, aber letztenendes routinierte Mechanik. Ich mach mal ein paar Beispiele:

Zitat
Es tut ihm leid? Wer‘s glaubt! Er muss ja nicht damit leben, mit dem Murks, den er aus meinen Ohren gemacht hat, zwei Jahre lang verschleppt, und natürlich hat das Gericht ihm keine Schuld zugesprochen, kein Schmerzensgeld. Oh, es wird ihm leid tun, ganz sicher wird es das!

Das ist Exposition in Reinform. Vorgeschichte, die der Protagonist von sich gibt, ohne sie zu durchleben, emotional aufgepfeffert mit ein paar Ausrufen. Der Protagonist beurteilt die Vorgeschichte, dadurch wird sie zu einem abgeschlossenen Teil seines Selbst. Ein Trauma fühlt sich anders an, da kann man die Vorgeschichte eben nicht abhaken, die bleibt in der Schwebe, quasi als wäre sie noch nicht vorüber.

Wie jeder Einzelne damit umgeht, ist sicherlich individuell verschieden. Zum Beispiel würde ich die Vorgeschichte aufgreifen und positiv zuendespinnen. Egal, wie Du das löst, aber der Witz an der Sache ist, dass der Protagonist ohne den Racheakt die Vorgeschichte nicht abschließen kann. Statische Urteile sind da kontraproduktiv. Die noch laufende Verarbeitung muss man, meine ich, sehen. Ganz gleich, welche Ausprägung die Gedanken des Protagonisten haben, sie müssen authentisch sein, die literarische Abkürzung zieht da nicht. Wut zu behaupten via "es wird ihm leid tun", lässt mich unbefriedigt zurück.

Zitat
Für jeden einzelnen verdammten Tag wird er bezahlen, bar und mit Herzblut, damit er merkt, was er da anrichtet bei seinen Opfern.

Zitat
Verängstigt. Wütend und hilflos.

Dasselbe Problem: sehr rhetorisch, wenig durchlitten. "Bezahlen" klingt so abstrakt. Dein Protagonist ist bereits in Aktion, er hat eine Vision, wie er seinen Peiniger quälen will. Die wird er sich regelmäßig vor Augen halten müssen, sie im Geiste durchgehen, schon allein, um das Gewissen taub zu halten. Wenn sich Dein Protagonist ausmalt, welche Emotionen er in dem Arzt wecken will, welche Situation stellt er sich dabei vor? Wird er dem Arzt einen Brief schreiben mit diesen aus Zeitungen ausgeschnittenen Buchstaben? Oder will er ihn anrufen, um sie direkt zu hören: die Angst, die Wut, die Hilflosigkeit? Unterlegt mit dem Pfeifen des Hörgeräts?

Hier hingegen gelingt Dir die Introspektive in meinen Augen ganz exquisit:

Zitat
Sie heißt Lena. „Hi, du bist Lena, stimmt‘s? Ich kenne deinen Papa.“ Und mag Eis. Also werde ich ein Eis für sie haben, hier im Wagen. Und dann...

Hut ab! Kurz, trocken und ein Albtraum für jeden, der mal junge Kinder gehabt hat. Das fühlt sich echt an: Er geht die Tat im Geiste durch. Davon kann er gar nicht genug kriegen, das war über Monate oder sogar Jahre seine einzige Möglichkeit, sich Erleichterung zu verschaffen. Das ist für ihn fast besser als die Tat selbst. Vorfreude ist die schönste Freude. Danach kommt bei Dir allerdings "Und dann..." Das impliziert, dass er den Gedanken nicht zuendedenkt. Liest sich für mich etwas drollig. Dein Protagonist hat das "dann..." er schon so oft durch, das kann er mit zig ausgesprochen wünschenswerten Varianten unterlegen. Woher ich das wissen will? Ganz einfach: Er setzt seinen Plan bereits um, hat sogar einen Schulcaterer infiltriert. Er ist vorbereitet.

Das Innenleben der Figuren in seiner ganzen kranken Glorie auszuloten und möglichst unverstellt zu sehen, ist vielleicht das größte Vergnügen am Psychothriller. Jedenfalls beim Lesen. :) Beim Schreiben scheint es mir eher belastend zu sein.

Liebe Grüße
Quisille
  • Ich schreibe gerade: Schandgreif (Band 1, Überarbeitung)

Offline eska

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Re: AT: Lieferservice
« Antwort #5 am: 23 October 2017, 23:13:19 »
Hi, Quisille.
Du hast mir einen angespannten Abend beschert, ja, das Schreiben von Thrill belastet, mich zumindest.  :schwitz:
Trotzdem: Ich habe das aufgegriffen, was ich von deiner Kritik umsetzen konnte, sozusagen stellenweise das Blattgold abgekratzt, und deswegen gibt es jetzt die aktuelle Version nochmal. Hoffentlich echter, thrilliger und mit erkennbarem Lerneffekt. ::)
Danke für die ausführlichen Tipps (und das implizite Lob :cheerful:) und dein Interesse (genau, es ist nur ein Übungstext/-textschnipsel und steht nur für sich).

Zitat
für mich war es eine Ich-Erzählerin. Woran das liegt, ist schwer festzumachen, wahrscheinlich an der detailverliebten Erzählstimme.
:twitch:
Das darfst du bitte noch kommentieren.
Hältst du Multitasking (oder hier Multiwahrnehmung) gegen Ausblenden von allem außer dem Ziel für typisch weiblich bzw.männlich? Ich stelle mir jemanden vor, der/die sehr aufgeregt und deshalb sehr bewusst alles wahrzunehmen versucht, was für ihn oder eben sie besonders schwer ist, durch einen fehlenden Haupt-Sinn.

Zitat
Kurz, trocken und ein Albtraum für jeden, der mal junge Kinder gehabt hat. Das fühlt sich echt an:
Genau. Bei diesem Satz rieselt es mir auch immer den Rücken runter.

So, schon spät. Weiter verbessert wird (heute) nicht.

Gruß,
eska



Lieferservice


Vorsichtig, ganz vorsichtig. Die Straße ist eng, auf beiden Seiten parken Autos, und Kinder rennen schon mal los, ohne zu gucken. Weiß man ja. Laubhaufen türmen sich unter den Bäumen, Platanen sind das doch, mit diesen hellen Flecken am Stamm.
Da, mein Parkplatz. Der Weg ist nicht weit, nicht mal mit den großen Kisten. Styropor ist ja nicht schwer. Nur die Eimer zerren einem die Arme lang, schon auf den paar Metern. Eimerweise Fruchtjoghurt, das muss man sich mal vorstellen! Wenn es bei uns Joghurt gab, dann für jeden einen Becher, 150 Gramm, weiß mit einem Klecks Fruchtsoße drauf. Und in der Schule gab es sowieso nichts.
Na, eine normale Schule ist das hier ja auch nicht; privilegiert und privat. Kann er sich schließlich leisten. Eine alte Villa, großer Garten, geputzte Fenster. Schreien tun die Kids wie alle anderen auch, so sieht es jedenfalls aus. Lächeln nicht vergessen. „Hi.“ Die Küchenhilfe begrüßt mich nebensächlich, ein bisschen in Eile, hebt den Deckel von der ersten Kiste, es dampft und riecht nach Kartoffelsuppe. Lecker.
Die Ersten sammeln sich an der Küchentür, ziemlich klein manche. Ist sie dabei? Blonde Haare haben viele. Auf dem Foto sind sie schulterlang, leicht gewellt, unordentlich. Ich gehe mal die nächste Kiste holen. Am Eingang die Fototafel. Da, zweite Reihe, zweite Klasse. Pferdeschwanz, das ist praktisch, muss ich mir merken, mit dem Tape.
„So. Der Salat. Und die Würstchen.“ War ich zu leise? Es dauert etwas, bis mir jemand die Kiste abnimmt, sie sind mit Auftun beschäftigt. Wuselnde Kinder stürzen sich auf die Würstchen. Jeder eins, hat der Erzieher gesagt, oder? Seine Hände sind beschwichtigend gehoben. Ich muss dieses verdammte Hörgerät mitnehmen, auch wenn das Piepen mich wahnsinnig macht. „Es tut mir leid. Wir konnten die Gehörknöchelchen nicht wiederherstellen. Die Auflösung ist zu weit fortgeschritten.“ Es tut ihm leid? Wer‘s glaubt! Er muss ja nicht damit leben. Er kann ja seinen Scheißjob weitermachen, noch mehr Ohren vermurksen. Patienten, ha! Opfer reihenweise. Aber jetzt ist er dran. Oh, es wird ihm leid tun, ganz sicher wird es das!
Für jeden einzelnen verdammten Tag wird er bezahlen, ja, in bar, Scheinchen für Scheinchen Schmerzensgeld. Aber das reicht nicht, das macht es nicht wett, nicht mal halbwegs: Wie das ist, wenn du nichts mehr mitkriegst, ob sie mit dir reden oder über dich, kein Lachen ohne Argwohn, kein Blick ohne Mitleid, sobald du den Mund aufmachst; irgendwas ist immer falsch, nie mehr Sicherheit. Die da, die Größeren am Tor, meinen die mich mit ihrem Gestikulieren? Ignorieren, einfach ignorieren. Einfach weiter, rosa Steinplatten mit braunen Fugen, bis zum Wagen, meiner Burg. Eine Stufe hoch, höher als die andern. Es riecht nach Wald, Kiefernduft. Hier kommt keiner rein. Bis übermorgen.
 Sie heißt Lena. „Hi, du bist Lena, stimmt‘s? Ich kenne deinen Papa.“ Und mag Eis. Also werde ich ein Eis für sie haben, hier im Wagen. Und dann das Tape und der Sack bis zur Garage.
Oh Gott! Ein Hund. Beinahe. Diese Schreckmomente, wenn jemand urplötzlich neben dir auftaucht. Kannte ich früher nicht. Desorientiert. Bis zum Herzrasen erschrocken - wird er sich so fühlen, endlich einmal etwas fühlen, wenn er den ersten Umschlag öffnet? Nichts drin als ein blondes Löckchen. Keine Nachricht, keine Spur. Werden seine Finger zittern? Und das Zittern nicht mehr loswerden? Tja, die OPs musst du absagen. Magentabletten, Tranquilizer, Scotch. Wirst du deine Frau anbrüllen, den Hund beiseite treten? Und dann warten. Hoffen ohne jede Handhabe. Den Briefkasten belauern, das Telefon. Jeden abwürgen, der dran ist. Allein. Allein mit deiner Wut und deiner Angst. Jeder Schritt ein Aufschrei.
Warum ich, warum Lena? Wo ist sie? Wie geht es ihr? Oh Gott, was wollen die bloß? Wann melden die sich endlich? Meldet euch! Macht ein Ende!
Nein, keine Chance, er wird warten müssen auf meine Bedingungen, wenn er sie wieder haben will. Das Messer in der Wunde drehen. Irgendwann ein Anruf, Knacken, Rauschen, „Papa! Papa!“. Und dann nichts mehr.
Eine kultivierte Stimme hat er: „Es tut mir leid.“ Ich will ihn winseln hören: „Lena, Schätzchen ...“
Er hat mich längst vergessen, einen von vielen, die er zugrunde gerichtet hat. Aber einer, der sich wehrt. Lena, für mich und all die anderen. Oh ja, er wird sich erinnern!

  • Ich schreibe gerade: mal wieder kaum. Feinschliff Lethbridge ist dran. Diverses liegt wieder auf Eis.

Offline Quisille

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Re: AT: Lieferservice
« Antwort #6 am: 24 October 2017, 11:58:17 »
Psychothriller... Werde ich wahrscheinlich nie schreiben wollen, fühlt sich scheußlich an.

Zitat
für mich war es eine Ich-Erzählerin. Woran das liegt, ist schwer festzumachen, wahrscheinlich an der detailverliebten Erzählstimme.
:twitch:
Das darfst du bitte noch kommentieren.
Hältst du Multitasking (oder hier Multiwahrnehmung) gegen Ausblenden von allem außer dem Ziel für typisch weiblich bzw.männlich? Ich stelle mir jemanden vor, der/die sehr aufgeregt und deshalb sehr bewusst alles wahrzunehmen versucht, was für ihn oder eben sie besonders schwer ist, durch einen fehlenden Haupt-Sinn.

Hätte ich eigentlich lieber nicht kommentiert. Aber nun muss ich wohl. :wiejetzt:

Wenn die explizite Information fehlt, übernimmt das Klischee. Ich illustriere das mal. Bevor ich loslege, denn es wird sich widerlich lesen: Wie im letzten Post bereits angedeutet, ist die Erzählstimme mit einer differenziert geschriebenen männlichen Figur durchaus kompatibel. Was ich gleich tun werde, geht mir selbst gegen den Strich. Here goes, [Klischee aktiviert] :confused::

Vorsichtig, ganz vorsichtig. Die Straße ist eng, auf beiden Seiten parken Autos, und Kinder rennen schon mal los, ohne zu gucken. Weiß man ja.

Die Perspektive ist sauber personal, aber der Wahrnehmungsfokus liegt auf der Sicht der anderen, denn das Innenleben der Kinder wird benutzt, um den Schluss zu ziehen. "Kinder sind so und so, deshalb rennen sie auf die Straße." Dafür braucht man eine Theory of Mind, die assoziiere ich mit hoher emotionaler Intelligenz, und somit eher mit "weiblich". Klischee mal beiseite: Es gibt Gründe, warum statistisch betrachtet Männer im Straßenverkehr etwas rüpelhafter und aggressiver unterwegs sind.

Laubhaufen türmen sich unter den Bäumen, Platanen sind das doch, mit diesen hellen Flecken am Stamm.

Die Straße ist zugeparkt, und ich kann jederzeit irgendeine dämliche Göre vor dem Kühler haben. Das wäre schlecht, denn das bedeutet Polizei und Personalien, dann kann ich meinen Plan in die Tonne treten. Meine Welt besteht aus aufgehenden Türen, aus Verkehrshindernissen, vielleicht noch aus inkompetenter Stadtplanung, aber sicherlich nicht aus Botanik. "Platanen"? Echt jetzt mal. Was das? Schnittblumen? Ich Klischeemännchen teile die Biologie in zwei Reiche ein: "nicht essbar" und "Fleisch".

Wenn es bei uns Joghurt gab, dann für jeden einen Becher, 150 Gramm, weiß mit einem Klecks Fruchtsoße drauf.

Wer kennt bitte die Füllmenge eines Joghurtbechers? Sowas kennt man noch nicht mal dann, wenn man selber einkaufen muss. Wer weiß, wie schwer ein Brot ist und was es kostet, ist Single. Oder schwul. Wahrscheinlich Single UND schwul. Hetero-Singles kaufen Ramen. Amen.

Eine alte Villa, großer Garten, geputzte Fenster.

Das Wort vor "Fenster": Was bedeutet das? Fenster machen sich doch von alleine sauber. Und da wir dabei sind: Wichtig ist mir Status, Gärten sind mir wurscht. Das ist eine Villa auf einem großen GRUNDSTÜCK.

Die Küchenhilfe begrüßt mich nebensächlich, ein bisschen in Eile, hebt den Deckel von der ersten Kiste, es dampft und riecht nach Kartoffelsuppe. Lecker.

Mir doch egal, warum mich die Küchenhilfe ignoriert. Ich weiß noch nicht mal, warum ich auf ihre Reaktion überhaupt achten sollte, das mach ich noch nicht mal bei meinen Dates. Da ist sie schon wieder, die Theory of Mind: Die habe ich nicht (=> Klischeemann). Außerdem interessiert mich Kartoffelsuppe jetzt gerade nicht die Bohne, schon gar nicht, wie die anderen schmecken wird. Ich will jetzt eh kein Essen. Nochmal zum Mitschneiden: Ich plane gerade ein Verbrechen, das ist eine Stresssituation. Da ist mir das Seelenleben von irgendwelchen Typen, die da gerade rumstehen, total schnurz.

Da, zweite Reihe, zweite Klasse. Pferdeschwanz, das ist praktisch, muss ich mir merken, mit dem Tape.

Ich weiß, das kommt jetzt wie ein Schock, aber Tape kann man auch über offene Haare drüberkleben. Zweimal fest rundrum, schon ist der Mund dicht. Klemmt sauber unter dem Hinterkopf, rutscht weder rauf noch runter. Wenn's nachher nicht abgeht, dafür gibt's Scheren, oder das Zeugs bleibt einfach an den Haaren dran. Wenn ich jetzt überhaupt schon so weit denke. Ich mein, das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: "Lena Schatz, machst du mal den Pferdeschwanz nach vorne, ich will dir den Mund zukleben." Wär ja fast komisch, wenn's nicht so ernst wär.

I rest my case. Mit Klischeemännchen ist der Subtext inkompatibel.

[Klischee Ende]

Ich will um Höllenwillen diesen Testosteronsumpf nicht als "männliche Tugenden" zelebrieren, und ich bin mir bewusst, dass mein Klischeemännchen auf geradezu widerlich sexistischen Grundannahmen aufbaut. Aber unsere Gesellschaft ist sexistisch, also wird es immer Leser geben, die diese Andeutungen entsprechend interpretieren, selbst dann, wenn sie sich der sexistischen Tendenzen bewusst sind, und sogar dann, wenn sie die ablehnen. (Fridge Logic: Ist das peinlich. Da hab' ich mich jetzt selbst bloßgestellt.)

Ist damit an dem Text was falsch? Nö!!! Wenn die explizite Information da ist, dass es sich um einen Mann handelt, haben wir eben einen Mann, der sich NICHT wie das Klischeemännchen verhält. Dafür sind wir als Schreiberlinge ja angetreten: interessante Figuren in die Welt setzen, die Klischees vermeiden, hinterfragen, bewusst auf den Kopf stellen. Aber wenn man gegen das Klischee anschreibt, muss man die explizite Information liefern, sonst gibt's Missverständnisse.

Zitat
Hältst du Multitasking (oder hier Multiwahrnehmung) gegen Ausblenden von allem außer dem Ziel für typisch weiblich bzw.männlich?

Interessanter Punkt. Ich hatte zunächst nur von "Erzählstimme" gesprochen, nicht von "Warhnehmung". Aber da Du es ansprichst: Insbesondere in einer Stresssituation ist das Ausblenden von irrelevanter Information weder weiblich noch männlich, sondern menschlich. Alles andere wäre tödlich: "Hilfe, ein Bär! Und diese wunderschönen Rhododendren da hinten im Halbschatten, wie hübsch die aussehen mit ihren zartrosa Blüt--" Haps.

Bär  vs  Prosalyrik
1   :0

Wenn hier also Worte wie "Platanen" fallen, ist das entweder ein Perspektivbruch oder ein Zeichen, dass "Platanen" zur zentralen Warhnehmungswelt des Perspektivträgers gehören, im Gegensatz zu, sagen wir, "Bäumen". Es gibt ja den "Detailerhaltungssatz": Jedes Detail, das hervorgehoben wird, ist für die Handlung wichtig. Und Dein Protagonist beschäftigt sich so eingehend mit der Natur der Straßenrandbegrünungsgehölze, dass es in seiner speziellen Situation schon fast an einen Fetisch grenzt. ;) Stünde da einfach nur "Platanen", würde das vielleicht noch als schriftstellerischer Kniff durchgehen, das Setting zu etablieren. Leichte Perspektivbrüche fallen den meisten Lesern noch nicht mal unterbewusst auf. Aber der Protagonist liefert gleich noch eine Borkenbeschreibung.

Zum Thrill:

Deine Änderungen wirken wie emotionales Nachwürzen. Das ist durchaus gelungen, es wird dadurch alles, nunja, würziger. Aber irgendwie wirkt es auf mich noch immer nicht echt.

Als Ausgangspunkt, gewissermaßen eine Einladung zum Spielen: Du bist in der personalen Perspektive des späteren Täters. Wie ist die Erzählsituation? WEM erzählt er seine Geschichte? Wir sind im Präsens, das legt nahe, dass die Retrospektive ausgeschlossen werden kann. Wer ist als "Publikum" da? Nur der Täter selbst. WARUM erzählt er sich seine Geschichte? Stabilisiert er sich mit der Selbstnarrative? Das macht er nicht nur genau jetzt. Wie, zum Beispiel, hören sich seine Selbstgespräche an, wenn er nachts um halb zwei das erste Mal aufwacht? Wieviel von diesen Selbstgesprächen sickern in seinen Tag ein? Wann beginnt sein Tag? Um fünf, mit dem ersten und schwersten depressiven Schub? Wie kriegt er die Kurve, um überhaupt IRGENDWAS anzupacken, wie beispielsweise aufzustehen? Woher nimmt er die Motivation, gegen die seelische Verletzung anzuleben? Kommt daher sein Hass? 

Worin besteht das Trauma? Kann er die Verkrüppelung nicht ertragen, widerspricht die seinem Selbstbild? Oder ist es eher die Machtlosigkeit, weil er den Prozess verloren hat? Welchen seiner Werte widerspricht seine ihm aufgenötigte Lebenssituation? Und vor allem: Warum verspricht der Racheakt Besserung? Objektiv gesehen verbessert sich nichts, also muss der Protagonist irgendwie die Realität erschaffen, innerhalb derer der Racheakt Sinn macht.

Dein Ansatz zielt noch immer darauf ab, die Emotionen der Figur zu etablieren. Du hast in der neuesten Version die Emotion raufgedreht, aber auch die Rhetorik. Und das mit gutem Grund: Deine Figur urteilt. Ein Urteil aber ist Leid, das das Verfallsdatum überschritten hat, und suggeriert, dass das Trauma bereits zum Großteil verarbeitet ist. Würde der Protagonist dann noch immer auf Rache sinnen? Diese Mechanik "Verarbeitung, Rationalisierung, Urteil, Plan" macht Deinen Protagonisten sehr rational und berechenbar. Das wirkt sich (jedenfalls bei mir) negativ auf den Thrill aus.

Schreib doch mal testweise Deinen Protagonisten im Bewusstseinsstrom. Wie sehen seine Selbstgespräche aus? Die sind vermutlich inkohärent, vielleicht sogar ungrammatisch. Keine Chance auf Rhetorik, es sei denn, die Rhetorik ergibt sich aus der Logik der Narrative, etwa, wenn der Protagonist im Geiste den Prozess noch einmal durchspielt. Niemand hört zu, er erzählt sich selbst seine durch ständige mentale Rückkoppelung verfaulende Realität, alles in der Hoffnung, eine Welt zu finden, in der er heil wird, und aus irgendeinem Grund ist Rache ein Teil dieser Welt. Wie hört sich das an? Du weißt es. Du weißt, wie es sich bei Dir anhört.

Und genau das ist der Grund, warum ich mich just entschieden habe, nie einen Psychothriller zu schreiben.

Liebe Grüße
Quisille
  • Ich schreibe gerade: Schandgreif (Band 1, Überarbeitung)

Offline eska

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Re: AT: Lieferservice
« Antwort #7 am: 25 October 2017, 00:30:08 »
Lieber Quisille;

es ist schon etwas später (0.13 Uhr), und eine genaue Beschäftigung mit deinem Post würde mich den Rest der Nacht kosten.
Dennoch: Die erste Lektüre des ersten Teils (Klischeemännchen) war wundervoll komisch, auch wenn du das nicht beabsichtigt haben solltest, danke für die vielen Lacher. Die zweite Runde dann nicht mehr: Ich akzeptiere dein Bild vom Klischeemännchen, kann es aber nicht wirklich glauben bzw. mich nicht genug hineinversetzen, um es zu schreiben. Was ja nicht schlimm ist, ich behalte aber im Kopf, dass meine männlichen Charaktere eventuell unglaubhaft wirken, wenn ich nicht aufpasse.

Ob ich ganz richtig verstehe, was du mit abgeschlossen bzw. unabgeschlossen meinst oder woran du das abliest, weiß ich gerade nicht (Müdigkeit), aber ja, mich hält auch mein Selbsterhaltungstrieb davon ab, mich noch näher an oder gar in die Seele meines Täters zu versetzen. Das mit dem Bewusstseinsstrom ist trotzdem eine interessante Idee. Ich schlaf mal drüber. *gähn*

Danke für deine explizite Mühe.
Gute Nacht.

eska
  • Ich schreibe gerade: mal wieder kaum. Feinschliff Lethbridge ist dran. Diverses liegt wieder auf Eis.

Rilyn

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Re: AT: Lieferservice
« Antwort #8 am: 25 October 2017, 10:48:04 »
Hoi eska :)

Ich versuch's mal von einem anderen Standpunkt aus als meine Vorredner.

Grundlegender Eindruck: Verwirrt. Zu viel durcheinander, zu vieles gleich oder unklar gewichtet, es entsteht inhaltliches Konfetti.
Zwar will ich deinem Protagonisten (ich dachte nicht drüber nach und neige im Nachhinein mehr zu einem männlichen Erzähler) nicht absprechen, dass es in seiner Wahrnehmung so wirr daher geht, aber der Brückenschlag zu deinen Lesern hält das am Anfang einer Geschichte nur schwer aus.

Was muss dieser Text leisten?
- Situation
- Figur
- Konflikt

Der Konflikt ist da, aber zu schwach, das Meiste geht an die Kulisse.

Was kann die Kulisse leisten?
Anhaltspunkte liefern, für die Figur und deren Konflikt. Gestern habe ich in einem Buch über Tauchmedizin den dringenden Rat gelesen, bei Taubheit auf einem Ohr das andere nicht auch aufs Spiel zu setzen und den Sport besser aufzugeben, oder einfach mal auszuprobieren, einer Fernsehsendung ohne Ton zu folgen und zu merken, wie sehr Menschen auf ihr Gehör angewiesen sind.
Blöderweise steckt der Anfang voller Bilder, die selbstverständlich da sind, aber keinen Rückschluss auf die Behinderung zulassen. Die ist aber die Grundlage des Konflikts: ohne Gehörschaden kein Problem, kein ständiger Ärger, kein verbissenes Festhalten an diesem Problem (ich widerspreche hier mal: es ist nicht verarbeitet, oder nur teils), Lösungssuche über Rache.

Hier ein Detail, das Normalität suggeriert, obwohl es beim Lesen nicht auffällt:
Zitat
Schreien tun die Kids wie alle anderen auch,
Aber wie hört dein Protagonist sie? Das geht unter. Explizit genannte Geräusche bringen unweigerlich den Gehörschaden und damit auch schnell Bitterkeit und / oder Rachegedanken hoch.

Zitat
War ich zu leise?
Ist okay, geht aber wiederum auf die eigene Stimme ein und nicht auf Geräusche von außen. Die eigene Lautstärke ist zwar ein Problem, aber es kann auch ganz banale Schüchternheit und Unsicherheit sein. Klar ist es Letztere; aber nimm dir die Zeit, sie zu konkretisieren und mit mehr Gefühlen zu verbinden. Das ist ein Moment, in dem die gefühlte Unzulänglichkeit übers Hören hinaus klar wird, die Verständigung ist auch eingeschränkt.

Das da muss präsenter werden, früher, erlebter, nicht am Stück. Die am Tor, die gestikultieren, könnten früher auftauchen, das Lachen, die Blicke, vielleicht von der Küchenhilfe.
Zitat
Wie das ist, wenn du nichts mehr mitkriegst, ob sie mit dir reden oder über dich, kein Lachen ohne Argwohn, kein Blick ohne Mitleid, sobald du den Mund aufmachst; irgendwas ist immer falsch, nie mehr Sicherheit. Die da, die Größeren am Tor, meinen die mich mit ihrem Gestikulieren? Ignorieren, einfach ignorieren.
Die Situation bzw die Kulisse dient ja nur dem Auftritt der Figur - von der sie dank der Wahrnehmung recht viel zeigt, aber eben wirr - und des Konflikts, und all das ist im Moment durcheinander, der Konflikt hier klar mitten rein geworfen, aber nicht eingewoben.


Noch ein paar Erbsen:

Zitat
Vorsichtig, ganz vorsichtig.
Womit?
Frühestens bei den losrennenden Kindern ist klar, dass hier jemand im Auto sitzt.

Zitat
Weiß man ja.
Das klingt hier einfach nur floskelhaft. :weissnicht:

Zitat
Platanen sind das doch, mit diesen hellen Flecken am Stamm.
Der kursive Teil lenkt den Fokus auf die Frage, ob das Platanen sind. Die ist nicht wichtig, also können es auch einfach welche sein, wenn dein Protagonist es weiß, und es ist ein nettes Detail für den Eindruck der Szenerie: "Platanen, mit diesen hellen Flecken am Stamm".

Zitat
Da, mein Parkplatz.
Verschenktes Potential: einparken ohne Gehör, auf die Ruckelei des Autos achten, wenn die Reifen am Bordstein anstoßen, hinter sich vorbeifahrende Autos beim Zurücksetzen nicht hören, etc.

Zitat
Der Weg ist nicht weit, nicht mal mit den großen Kisten. Styropor ist ja nicht schwer. Nur die Eimer zerren einem die Arme lang, schon auf den paar Metern.
Styropor ist nicht schwer, aber der Inhalt (ich hatte mal das Vergnügen, jemandem die Kiste mit sechs Pizzen abzunehmen ;D)
Aber das ist nicht so wichtig; wichtiger ist der Bruch im Text. Kein Aussteigen (wäre kein Problem), kein Kisten nehmen, hier wäre der Schreckmoment mit dem Hund gut, Konfrontation mit der Welt außerhalb der Autoburg. Stattdessen suggerierte Problemlosigkeit auf einer anderen Ebene: Liefern. Nicht leben, nicht Hörschaden. Ergo geht der unter.

Zitat
Schreien tun die Kids wie alle anderen auch, so sieht es jedenfalls aus.
Das "so sieht es jedenfalls aus" geht ebenfalls unter, es hängt unvorbereitet und dezent an einem Satz dran, der mit "Schreien" beginnt und damit den Eindruck kreischender Schulkinder wachruft - den aber dein Protagonist nicht hat.

Zitat
Ich gehe mal die nächste Kiste holen.
"Mal" wirkt wieder so unpassend, als sei hier eine Menge Zeit. Zu umgangssprachlich? :wiejetzt:

Zitat
Am Eingang die Fototafel.
Und hier ein Problem der fehlenden Umgebung: ich habe ihn an die Küchentür gehen sehen, eine Hintertür, außen, und damit überhaupt nicht am Eingang. Damit will ich nicht sagen, dass eine eindeutige Beschreibung der Umgebung her muss, nur dieses eine klargestellte Detail: wenn dein Protagonist durch den Haupteingang geht, könnte das umso mehr Grund fürs Zeigen / Nennen der Villa bieten als geputzte Fenster. Die sind in jeder Hinsicht weit weg.

Zitat
Ich muss dieses verdammte Hörgerät mitnehmen, auch wenn das Piepen mich wahnsinnig macht. „Es tut mir leid. Wir konnten die Gehörknöchelchen nicht wiederherstellen. Die Auflösung ist zu weit fortgeschritten.“ Es tut ihm leid? Wer‘s glaubt! Er muss ja nicht damit leben, mit dem Murks, den er aus meinen Ohren gemacht hat, zwei Jahre lang verschleppt, und natürlich hat das Gericht ihm keine Schuld zugesprochen, kein Schmerzensgeld. Oh, es wird ihm leid tun, ganz sicher wird es das!
Wie schon erwähnt zu unmotiviert reingeschmissen. Der ganze Ärger und das ganze Leid fließen hier frühestens ein, weil sie bisher im Text keine Aufhänger hatten; und umso schwächer sind sie hier.

Zitat
Bis übermorgen. Sie heißt Lena.
Vor diesem Absatz ein Zeilenumbruch. Du verwendest hier sehr viel gehetzten Text dicht aufeinander, aber das verstärkt nur den Informationssalat, der eine oder andere Absatz kann eine Menge rausholen.

Zitat
Oh Gott! Ein Hund. Beinahe. Diese Schreckmomente, wenn jemand urplötzlich neben dir auftaucht.
Im Auto? In der sicheren Burg? ... und der Hund läuft draußen vorbei? Der wäre wirklich früher im Text angebracht als hier, nach der Racheplanung, den Gründen, der Absicht.



Ob der Protagonist Frau oder Mann ist, war mir wie schon erwähnt ziemlich egal. Aber eine leichte Tendenz gibt es schnell, und wenn du es dann aufklärst, sei es durch die Reaktion einer Nebenfigur oder anderen Figur, dann läufst du Gefahr, einen Teil deiner Leser zu verprellen. Also lieber nicht zu lang mit einer recht eindeutigen Andeutung warten, und sei es die Wut auf das Klischee, dass Frauen nicht einparken könnten. ;D

Hineinversetzen: Gerade bei der Ich-Perspektive des Täters ist das, finde ich, ein Muss. Mir fiel Folgendes auf:
Zitat
Zitat
Zitat
Kurz, trocken und ein Albtraum für jeden, der mal junge Kinder gehabt hat. Das fühlt sich echt an:
Genau. Bei diesem Satz rieselt es mir auch immer den Rücken runter.
Mir nicht, und das liegt nicht dran, dass ich keine Kinder habe. Aber ich bleibe in diesem Moment im Kopf des Erzählers / Täters, und dem rieselt es nicht kalt den Rücken runter. Da geht es um den Thrill, ob der Plan gelingt und ob aus alldem am Ende wirklich etwas zu gewinnen ist. Die Spannung, ob das Mädchen davonkommt, gefunden wird, die Sache unbeschadet übersteht, die liegt gegebenenfalls in der Polizeiarbeit, falls dein Thriller solche beinhaltet. Falls er im Kopf des Täters bleibt, dann - sorry, Lena - ist das zweitrangig. Aber es sollte zumindest kein Stück weniger spannend sein.


Den zweiten Ansatz finde ich insgesamt besser verständlich, aber er hat stellenweise noch dieselben Probleme und bricht auch aus der Aufgabenstellung aus, nicht mehr Alltag plus Thrill-Element, sondern driftet vollends aus der Situation in die Planung ab. Ob das was hilft ... Es geht zu großen Teilen nicht mehr weiter, die Rachegedanken drehen sich im Kreis, ufern zu weit aus, greifen Bekanntes in neuer Weise wieder auf, aber ohne Handlung, ohne Vorankommen. Und ich glaube, da liegt der Hase im nicht vorhandenen Pfeffer, dem nicht vorhandenen Roman hinter dem Anfang.
Du gehst hier weit von der Perspektive des Täters weg und ersetzt dessen Leid durch das angenommene des Vaters, der seine Tochter wiederhaben will. Einerseits großartig, weil genau das die Absicht des Täters ist, andererseits gefährlich nahe an einem Bruch mit diesem und Verspielen der Sympathie. Dazu kommt die Frage: gibt es eine Perspektive dieses Vaters später im Buch, die den Effekt konkret und deutlich rüberbringen kann? Gibt es mehr Ermittler? Oder bleibst du in der Täterperspektive?


Liebe Grüße :kaffee2:
Ril
« Letzte Änderung: 25 October 2017, 11:04:04 von Rilyn »

Offline Quisille

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Re: AT: Lieferservice
« Antwort #9 am: 25 October 2017, 11:12:04 »
Klischeemännchen, kann es aber nicht wirklich glauben bzw. mich nicht genug hineinversetzen, um es zu schreiben. Was ja nicht schlimm ist, ich behalte aber im Kopf, dass meine männlichen Charaktere eventuell unglaubhaft wirken, wenn ich nicht aufpasse.

Nein. Neinneinneinnein. So war's nicht gemeint. "Unglaubhaft" ist was ganz anderes als "Defaultannahme". Lese ich den Text ohne weitere Informationen zum Protagonisten, habe ich eine Frau vor Augen. Das wäre anhand der Färbung des Texts meine Defaultannahme. Habe ich allerdings die Information, dass es sich um einen Mann handelt, ist er deshalb noch lange nicht unglaubhaft. Entgegen dem Klischee, dass Jungs nur Fleisch essen, die emotionale Intelligenz einer Dampframme haben, mit dem Schritt denken und an den falschen Stellen zu viele Haare haben, gibt es auch solche, die wissen, wie man eine Klobürste benutzt, die bei vegetarischem Essen nicht an Rasenmäher denken und sich nach einem dezenten Hinweis wie zum Beispiel ein, zwei Fausthieben an den Gedanken gewöhnen können, dass ihre Angebetete vielleicht doch nicht ganz so sehr an einem Flirt interessiert ist. Gibt es bestimmt. Hoffe ich.

Ob ich ganz richtig verstehe, was du mit abgeschlossen bzw. unabgeschlossen meinst oder woran du das abliest, weiß ich gerade nicht (Müdigkeit), aber ja, mich hält auch mein Selbsterhaltungstrieb davon ab, mich noch näher an oder gar in die Seele meines Täters zu versetzen. Das mit dem Bewusstseinsstrom ist trotzdem eine interessante Idee. Ich schlaf mal drüber. *gähn*

Wenn man Deine letzten beiden Texte so betrachtet, macht es den Eindruck, als würdest Du gezielt Richtung Thriller gehen und vielleicht sogar einen Workshop besuchen. Wenn das mit dem Psycho- nicht mehr war als eine Untereinheit, die Du halt mitgenommen hast, dann wäre verständlich, wenn Du dich auf den Nicht-Psycho-Anteil konzentrierst und Thriller ohne Psycho schreibst. Ob allerdings Psychothriller möglich sind ohne Psychotäter nebst psychotischem Schriftsteller, der sich in die Psyche des Psychos hineinversetzt, halte ich für fraglich. :cheese:

Liebe Grüße
Quisille
  • Ich schreibe gerade: Schandgreif (Band 1, Überarbeitung)

Rilyn

  • Gast
Re: AT: Lieferservice
« Antwort #10 am: 25 October 2017, 11:43:17 »
Ich soll keine Röstis rösten, hat man mir gesagt, aber ahem, hum, hrm ...
Zitat
Ob allerdings Psychothriller möglich sind ohne Psychotäter nebst psychotischem Schriftsteller, der sich in die Psyche des Psychos hineinversetzt, halte ich für fraglich.
:watchout: :peitsch:
Ja. Sogar per definitonem. Das einzige Muss ist das Hineinversetzen, aber das gilt wohl für jeden Autor und jedes Buch, das gewisse Ansprüche an die eigene Glaubwürdigkeit stellt. Psychothriller legen den Fokus gerade auf das emotionale Zusammenspiel der Figuren oder auch das Innenleben Einzelner.

Macht ggf. einen eigenen Thread draus; ich möchte das hier nicht unkommentiert lassen, aber die Diskussion gehört nicht hierher. :)

Eigentlich hrumpfe ich wegen des dezent unangebrachten Scherzes herum ... Nicht böse gemeint; ich kann mir da an die eigene Nase fassen und bin froh, wenn mir jemand vors Schienbein tritt. Was mich hier konkret ankekst, ist die Implikation, man müsse "psycho" sein, um Psychothriller zu schreiben. "Psycho" wie in was, verrückt? Unverständlich? Also leider ein Festnageln dieser Verständnislosigkeit, wo es doch gerade darum geht, sie zu überwinden, für das Schreiben, durch das Lesen, und nebenbei wäre es auch toll, wenn ein paar Vorurteile den Bach runter gingen. Psychothriller kennen selten eine Einteilung in Gut und Böse, Polizei und Täter, in klare Verhältnisse. Denn wo gibt es klare Verhältnisse, wenn ein Täter aus nachfühlbaren Gründen zum Täter wird, wenn man Rahmenbedingungen bedenkt, in denen es so weit gekommen ist ... Und das sind doch die Gründe, Psychothriller zu lesen und zu schreiben: die erschwerte Nachvollziehbarkeit von Motiven und Tathergang, die Notwendigkeit, weit über den Tellerrand hinaus zu denken, Empathie nicht nur zu Opfern, das Auflösen von Grenzen und Schuldzuweisungen, und vermutlich auch der Einblick darin, dass jeder Mensch, so sicher er sich auch fühlen mag, psychisch verletzt werden kann und irgendeinen Weg finden muss, damit umzugehen.
Gerade in dieser Hinsicht finde ich eskas Protagonisten mit dem Hörverlust nah am Bekannten und leicht nachvollziehbar.
« Letzte Änderung: 25 October 2017, 11:57:15 von Rilyn »

Robur

  • Gast
Re: AT: Lieferservice
« Antwort #11 am: 25 October 2017, 20:46:22 »
Moin moin – dann möchte auch ich noch meinen Eindruck schildern :)

ich finde diesen Beginn gut – hat mich von Anfang an gepackt – ich würde weiterlesen. Normalerweise mag ich eher ausführliche Texte, während du mit einem recht flotten Schreibstil daherkommst. Aber ich finde es passt – das gibt dem ganzen etwas atemloses, was aufgrund der Ich-Perpektive auf den Protagonisten übertragen wird. Allerdings könnte es sein, dass mir dieses atemlose für einen langen Roman doch zu anstrengend ist. Vielleicht eignet sich diese Perspektive als immer wiederkehrende (kurze) Einschübe, zwischen längeren Kapiteln mit einem anderen Protagonisten.

 Zwischenzeitlich hatte ich sogar eine Gänsehaut – an der Stelle mit dem Pferdeschwanz und dem Tape - ab hier wurde klar, dass er etwas verdammt falsches vorhat. Vorher war es nur ein seltsamer Typ, obwohl man schon merkte, dass da irgendwas im Busch ist. Allerdings habe ich die Stelle, wo er sich selbst fragt ob er zu leise sei, zunächst falsch interpretiert: Nämlich, dass er seine Stimme vor Nervosität unter Kontrolle bringen muss. Habe daher auf einen Triebtäter geschlossen. Das mit dem kaputten Gehörknöchelchen hat mich etwas überrascht und zunächst fragte ich mich, ob das tatsächlich ein Grund sei dem Kind von jemanden was antun zu wollen. Erst ab dem Hund habe ich verstanden, welche Beeinträchtigung dies mit sich bringt. Ich würde die Gehörlosigkeit schon viel, viel früher einbauen.

Interessanterweise hatte auch ich einen männlichen Protagonisten vor Augen – einen detailversessenen männlichen Protagonisten, was ihn für mich irgendwie schräg gemacht hat. Wie jemand, der beim verlassen der Wohnung den Schlüssel exakt drei Mal im Schloss drehen muss oder so. Dennoch war er für mich männlich, obgleich ich nicht benennen kann, woran es liegt. Vielleicht Klischeedenken, weil die Täter in Büchern meist männlich sind.

Liebe Grüße,
Robur

Offline eska

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Re: AT: Lieferservice
« Antwort #12 am: 26 October 2017, 23:47:38 »
@Quisille:
Zitat
"Unglaubhaft" ist was ganz anderes als "Defaultannahme". Lese ich den Text ohne weitere Informationen zum Protagonisten, habe ich eine Frau vor Augen. Das wäre anhand der Färbung des Texts meine Defaultannahme

Habe ich mich so schematisch ausgedrückt? Entschuldige. Ich habe weder geglaubt noch bei dir gelesen, dass das Klischeemännchen in Reinform erscheint oder erscheinen soll. Aber die Summe der einzelnen Punkte, die (bei dir) den Eindruck erwecken 'Frau', die für mich nicht irgendwie auffällig wirken, die macht es doch ('Färbung' gefällt mir). Wenn in einem anderen, hypothetischen Text noch mehr davon rumspuken und es damit keine Besonderheit des Charakters zu zeigen gibt, dann bestünde die Gefahr für 'unglaubhaft'. Besonders, wenn keine ausdrückliche Geschlechtszuweisung da steht und der Leser irritiert wird.

Robur illustriert das hier sehr schön:
Zitat
einen detailversessenen männlichen Protagonisten, was ihn für mich irgendwie schräg gemacht hat. Wie jemand, der beim verlassen der Wohnung den Schlüssel exakt drei Mal im Schloss drehen muss oder so.
Danke, Robur!

Ansonsten: Ja, Kurs mit Beispielthema Psychothriller, habe ich a.a.O. erwähnt. Nicht gerade mein Lieblingsgenre. Deren Lektüre geht mir an die Nieren und ich vermeide sie, das Schreiben - bisher einmal Opfer-, einmal Täterperspektive - bisher auch. Opfer bedient Ängste, Täter die, sagen wir, extremeren Persönlichkeitsanteile. Psychotisch würde ich das nicht nennen.
Der Reiz oder die Herausforderung ist es wohl, Erschreckendes verständlich zu machen, nachfühlbar, wie Rilyn schreibt, und den schmalen Grat zu suchen, der zwischen dem Gerade-noch-Entschuldbaren (oder Erträglichen, ich finde kein besseres Wort, obwohl ich die Schuldfrage lieber raus ließe) und dem Entsetzlichen liegt, wenn es ihn denn gibt. Dieser Nachsatz deutet an, dass das eine sehr individuelle Grenze sein könnte und damit nicht genau zu definieren.

@Robur:
Zitat
ich finde diesen Beginn gut – hat mich von Anfang an gepackt – ich würde weiterlesen.
:dops:

Zitat
Ich würde die Gehörlosigkeit schon viel, viel früher einbauen.
Ja, das wäre wohl schlau. Ich hatte gehofft, den Leser mit kleinen Hinweisen aufzuwecken, aber das scheint nicht auszureichen und eher für Irritation zu sorgen.  :ups:

Zitat
zunächst fragte ich mich, ob das tatsächlich ein Grund sei dem Kind von jemanden was antun zu wollen.
Hoffentlich nicht wirklich. Aber dieser Entführer schafft es im Geist, nur den Vater, den er treffen will, im Blick zu haben, das Kind als Person auszublenden. Was für mein Verständnis ein wesentlicher Schritt weg vom Normalen ist. Wie er reagiert, wenn ihm das nicht mehr gelingt, wird spannend.

Danke! :)

@Rilyn:
Liebe Ril, bitte verzeih, ich schaffe es nicht, dein ganzes Rösti zu kommentieren, hab schon gestern dran gesessen.
Aber damit du nicht denkst, du hättest dir die Mühe umsonst gemacht: Folgende wesentlichen Verbesserungsvorschläge habe ich dem entnommen:
1. Setting nutzen, um den Protagonisten und sein Problem klarer einzuführen oder weg damit. Am besten durch frühere Klarstellung, z.B. am Hund, an den Gestikulierenden etc. seine Unsicherheit zeigen. Damit von Anfang an den Konflikt verschärfen.
2. Das Einparken per Ruckeln fand ich klasse!!
3. Version 2 teilweise besser, aber weiter weg von der Aufgabe (stimmt, im Eifer des Gefechts aus den Augen verloren) und teilweise zu weit weg vom Leiden des Täters.
Zitat
gefährlich nahe an einem Bruch mit diesem und Verspielen der Sympathie
Danke für die Warnung!

Noch eines: Klar, ohne den Ausblick auf eine echte Romanhandlung hängt einiges in der Luft, aber trotzdem könnte das hier
Zitat
Es geht zu großen Teilen nicht mehr weiter, die Rachegedanken drehen sich im Kreis, ufern zu weit aus
meiner Ansicht nach auch ein Aspekt seiner Besessenheit sein; er denkt an nichts mehr als an das, was er bewirken will: mindestens so großes Leiden, wie er erlebt hat/erlebt.

Zitat
Zitat

    Schreien tun die Kids wie alle anderen auch, so sieht es jedenfalls aus.

Das "so sieht es jedenfalls aus" geht ebenfalls unter, es hängt unvorbereitet und dezent an einem Satz dran, der mit "Schreien" beginnt und damit den Eindruck kreischender Schulkinder wachruft - den aber dein Protagonist nicht hat.

Das hat mich erstaunt. Ich nehme es dir mal ab, aber in seinen Gedanken muss die Reihenfolge m.E. so sein, er ist es ja gewohnt, Bilder auf ihre Töne hin zu interpretieren, also er 'sieht' sie schreien.
Korrigiere mich, wenn ich falsch liege.  :)

Ich muss hier schließen.
Danke euch allen fürs Rösten und die interessanten Antworten auf meine Frage nach dem Geschlecht!
 :wink:

Gruß,
eska
  • Ich schreibe gerade: mal wieder kaum. Feinschliff Lethbridge ist dran. Diverses liegt wieder auf Eis.

Rilyn

  • Gast
Re: AT: Lieferservice
« Antwort #13 am: 27 October 2017, 09:04:53 »
Hoi eska,

kein Problem, du musst ja nicht alle Erbsen umrühren,

Zitat
Das hat mich erstaunt. Ich nehme es dir mal ab, aber in seinen Gedanken muss die Reihenfolge m.E. so sein, er ist es ja gewohnt, Bilder auf ihre Töne hin zu interpretieren, also er 'sieht' sie schreien.
Korrigiere mich, wenn ich falsch liege.  :)
So habe ich das beim zweiten Lesen gelesen, aber beim ersten kam zuerst "Schreien" an, und meine Gewohnheit machte zuallererst das Geräusch draus statt ein gedämpftes, gesehenes Schreien. Vielleicht funktioniert das, wenn durch Einparken, Hund etc das Problem vorher klar ist; um ganz sicher zu gehen, stell nicht das lauteste Wort an den Satzanfang. :)

Liebe Grüße :kaffee2:
Ril


(Am Rande: "psychotisch" ist definitiv nicht das gesuchte Wort. Erklären lass ich das aber die Definition von Psychose auf DocCheck.)