Autor Thema: AT: Guten Morgen!  (Gelesen 5903 mal)

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Offline eska

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AT: Guten Morgen!
« am: 19 September 2017, 23:13:42 »
Liebe Mitteufel!
Um der Rösterei hier mal wieder etwas Aufschwung zu verleihen (es riecht schon gar nicht mehr kokelig und die Gabeln beginnen bald zu rosten), opfere ich euch einen Gelegenheits-Text.
Der Auftrag lautete, den Anfang eines Thrillers zu schreiben. Hier nun mein Versuch, mich diesem mir eher fremden Genre zu nähern.
Der Text ist kurz, nicht abgeschlossen (siehe Aufgabenstellung) und möglicherweise nur für zarte Seelchen gruselig.
Trotzdem viel Spaß!

eska




Mist! Der Scheibenwischer stottert. Auch das noch. Jetzt sind die Tropfen nicht mehr vereinzelte Linsen, die das Licht brechen und die Sicht verzerren, sondern ein Film von Schlieren, der sich über die Scheibe verteilt. Guten Morgen, Martina!

Na schön. Ich öffne den Gurt, die Tür, steige aus. Irgendetwas hat sich da verfangen. Auch Gleitsichtbrillen nützen nichts bei Regen. Diesen Impervius-Zauber von Hermine müsste man haben. Auf Zehenspitzen balanciere ich auf dem Kopfsteinpflaster und angele, neben mir spritzen die Vorbeifahrenden durch die Pfützen. Meine Strümpfe sind schon nass. Da! Ein Stöckchen, nichts weiter. Ein Lächeln breitet sich in mir aus. Erleichterung. Alles okay. Ab in die Tonne damit und gut. Kurz bevor ich es wegwerfen will, fühle ich es: eine Kante, glatt und gerade. Tesafilm. Kein Stöckchen. Ein eingerolltes Stück Papier, sorgsam umwickelt, kein bisschen durchweicht.

Der Milchkaffee rumort in meinem Magen. Es tropft aus meinen Haaren. Ich starre auf die vielleicht zwei Zentimeter und versuche, mich zu fassen. Was jetzt - rein ins Haus und lesen oder weiter? Ich muss los. Egal, was da jetzt wieder steht, die Schule wartet nicht. Ich steige ins Auto, umklammere das Lenkrad. Mir ist schlecht.
„Du wirst schon sehen.“ Da sind sie wieder, diese Worte von heute Nacht, ungerufen, eingebrannt in mein Gedächtnis wie in ein Display ohne Bildschirmschoner. Erst eine SMS um drei Uhr nachts auf meinem privaten Handy, die Nummer rück ich nicht oft raus, und jetzt, um halb acht, eine physische Botschaft. Und sie klemmt noch nicht sehr lange hier.




Fragen: Würdet ihr das weiterlesen wollen? (Weiter gibt es noch nichts.) Steckt da Thrill drin und wie käme der noch besser zur Geltung?
Sonstige Kommentare sind ebenfalls willkommen. (Autsch, es reicht, es reicht...)
Fröhliches Rösten!
  • Ich schreibe gerade: mal wieder kaum. Feinschliff Lethbridge ist dran. Diverses liegt wieder auf Eis.

Offline Quisille

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Re: AT: Guten Morgen!
« Antwort #1 am: 20 September 2017, 10:05:12 »
Moin!

Mit Thrillern kenne ich mich nicht aus, abgesehen von der gelegentlichen Lektüre. Allerdings vermute ich, dass man recht schnell liefern muss. Ich hab gerade eben mal ein bisschen Thrillerluft geschnuppert. (Danke an Amazon und "Blick ins Buch"!) Aus einem schmuddeligen Querlesen vermute ich als Genremerkmal: Der Hook gehört in den ersten Satz. "Hook" scheint in diesem Fall zu bedeuten, dass gleich im ersten Satz Bedrohungsspannung aufgebaut wird. Nehmen wir uns mal Deinen ersten Absatz vor:

Mist! Der Scheibenwischer stottert. Auch das noch. Jetzt sind die Tropfen nicht mehr vereinzelte Linsen, die das Licht brechen und die Sicht verzerren, sondern ein Film von Schlieren, der sich über die Scheibe verteilt. Guten Morgen, Martina!

Beschreibung von Nebensächlichkeiten im Detail. Dieses "Rauszoomen" ist eine beliebte Technik für Unterhaltungsromane mit literarischem Anspruch. Manche sagen auch "Wölkchenbuch" dazu, abgeleitet von einem typischen Motiv auf dem Cover. Auf Leser von Thrillern muss ein derartiger erster Absatz wie Prosalyrik wirken. In den nächsten Absätzen geht es ähnlich weiter. Der eigentliche Hook kommt erst ganz am Ende des Texts:

„Du wirst schon sehen.“ Da sind sie wieder, diese Worte von heute Nacht, ungerufen, eingebrannt in mein Gedächtnis wie in ein Display ohne Bildschirmschoner. Erst eine SMS um drei Uhr nachts auf meinem privaten Handy, die Nummer rück ich nicht oft raus, und jetzt, um halb acht, eine physische Botschaft. Und sie klemmt noch nicht sehr lange hier.

Das ist Dein Hook, und das ist dann auch Dein erster Absatz. Harry-Potter-Anspielungen, ruinierte Frisuren, Accessoires, verspielte Gedankenrede, Milchkaffee, alles das wirkt unkonzentriert. Probier's mal aus: Nimm diesen Absatz, und dann schreibe weiter, bis Du Deinen Anfang hast. Auf die ersten zwei, drei Normseiten gehört alles, was Du brauchst, um die Bedrohungsspannung möglichst weit an den Anschlag zu drehen. ALLES(!) andere, alles, was nicht diesem einen Ziel dient, muss raus.

Dann rösten wir mal Deinen Hook im Detail. Fangen wir an mit dem ersten Satz:

„Du wirst schon sehen.“

Die Idee ist gut, aber der Satz ist (noch) ein Platzhalter: Er ist zu unkonkret. Wahrscheinlich geht's momentan nicht besser, denn es ist der Anfang eines Romans, den es noch nicht gibt. Später müsste hier ein erster Hinweis stehen, welcher Art die Bedrohung ist. Etwa: "Du wirst schon sehen schlampe" (ist ne SMS, die nehmen's mit Zeichensetzung und Großschreibung nicht so genau).

Nun zum zweiten Satz:

„Du wirst schon sehen.“ Da sind sie wieder, diese Worte von heute Nacht, ungerufen, eingebrannt in mein Gedächtnis wie in ein Display ohne Bildschirmschoner.

Simile, you're being filmed. :) In diesem Genre ist das ein Perspektivbruch. Wer bedroht ist, drechselt kein Wortkonfekt. (GnnnNNN! ist das ein schiefes Bild. Sorry.)

Nächster Satz:

Erst eine SMS um drei Uhr nachts auf meinem privaten Handy, die Nummer rück ich nicht oft raus, und jetzt, um halb acht, eine physische Botschaft.

Der Schnörkel ist markiert. "Privat" reicht völlig aus. Statt "physischer Botschaft" müsste nach Streichen der ersten Sätze ein Hinweis kommen, wo die Botschaft gefunden wird, also z.B. ersetzen durch "ein Zettel unter dem Scheibenwischer".

:tanz2: Wir präsentieren: Deine eigenen Worte, minus Bauchfett! Applausapplausapplaus! :tanz2:

Zitat
„Du wirst schon sehen schlampe“

Da sind sie wieder, die Worte von heute Nacht, ungerufen, eingebrannt in mein Gedächtnis. Erst eine SMS um drei Uhr früh auf meinem privaten Handy, und jetzt, um halb acht, ein Zettel unter dem Scheibenwischer. Er klemmt noch nicht lange dort.

Liebe Grüße!
Quisille
  • Ich schreibe gerade: Schandgreif (Band 1, Überarbeitung)

Uli

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Re: AT: Guten Morgen!
« Antwort #2 am: 20 September 2017, 13:24:06 »
Hmmm ... Triller.
Nicht unbedingt mein Genre, aber immerhin habe ich sowas schon mal gelesen.

Wie ich die Sache verstehe, soll ein Triller vorwiegend bis ausschließlich „Spannung“ aufweisen, die nach Möglichkeit auch noch ein wenig ungreifbar, geheimnissvoll ist.
Ob ein Triller gleich am Anfang trillen muss, wie Quisille das meint, kann ich nicht beurteilen - glaube aber, dass das nicht zwingend ist. Aber egal.

Eine Bedrohung muss jedenfalls da sein, und idealerweise soll diese nicht „alltäglich“ sein: In einer Welt voller Zombi-Vampiere mit Flammenwerfern ist ein weiterer Killer kaum der Rede wert.
Zudem braucht es eine stetige Steigerung der Bedrohungslage, also sollte erstmal nur ein Unwohlsein in einer an sich gar nicht bedrohlichen Situation da sein - ein seltsmer Fremder in einem netten Vorort ist halt was anderes, als ein solcher in einem verrufenen Viertel der Großstadt.

Also: Eine Steigerung von Irritation zu Schrecken, zu Hilflosigkeit (durch den gescheiterten Versuch, Unterstützung zu bekommen) zu Entsetzen (wenn man erkennt, was da droht).

Rückblenden sind kontraproduktiv.
Die Autofahrt im Regen mit irgendwie nicht funktionierendem Scheibenwischer ist als Bild ganz OK, aber:
Zunächst stört mich die Rückblende auf die SMS.
Hier verschenkst du die Steigerung: Eine wilde SMS von unbekanntem Absender ist weiter weg, unpersönlicher, und daher harmloser als eine physische Botschaft am eigenen Auto.
der Unterschied zwischen „ich kenne deine Handynummer“ und „wir wissen wo dein Auto steht“, da kommt etwas näher - also, Schritt für Schritt mitteilen, in diesr Reihenfolge. Das nächst ist dann „wir wissen, wo dein Haus wohnt“ ...

Ein Problem beim trillen ist die Ich-Erzählerin. Die hat ein paar Eigenschaften, die dem Schrecken entgegenstehen.
Beispielsweise, dass Ich-Erzähler nur schwer umzubringen sind, man erwartet automatisch, dass alles gut ausgeht. Zumindest für diese Person.
Und das Mittel „der Leser weiß mehr als die Protagonistin“ ist ebenfalls nicht einfach anzuwenden.
Dann die Figurenzeichnung, die Identifikation mit der Figur, beides wird durch Ich-Erzähler erschwert - insgesamt verlangt die Perspektive mehr Mitdenken und analysieren vom Leser, und steht der freien Entfaltung des Schreckens daher entgegen.

Also:
Ein neutraler Erzähler berichtet, dass die Protagonistin morgens aufwacht und unerwartet eine SMS mit seltsamen Inhalt findet - das aber als unwichtig abtut, Frühstück macht und dann doch noch mal nachschaut, ob (beispielsweise) der Klingelton beim SMS-Empfang abgeschaltet war. Oder sowas.
Dann stellt sie fest, dass es regnet und sie spät dran ist, dann funktioniert der Scheibenwischer nicht, wegen der Botschaft, die dahinter klemmt.
An dieser Stelle wäre dann die Überlegung in Richtung „welcher Mistkerl aus meinem Bekanntenkreis macht so doofe Spässe“ der erste Schritt, und erst beim Heimkommen ein ernster Hinweis, wie ein Zettel auf dem Tisch oder so etwas.
Irgendwo dazwischen sollte „the evil“ schon mal einen kleinen Auftritt haben, evtl nicht mal persönlich, sondern gern auch mit der guten alten Szene im Polizeipräsidium, wo über sein letztes Opfer gesprochen wird.
damit hätten wir das „Rennen“ zwischen Killer, Opfer und Retter, den Zeitdruck, den Umstand, dass der Leser die Gefahr kennt und einschätzen kann (oder das wenigstens glaubt), und viel Möglichkeit, die Spannung aufzubauen ...

Hoffe, das hilft ...

cheers, Uli

Offline eska

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Re: AT: Guten Morgen!
« Antwort #3 am: 20 September 2017, 21:43:30 »
N'Abend allerseits.

Und danke euch fürs Kommentieren! Es ist echt spannend, wie unterschiedlich ihr das mit dem sofortigen oder langsamen Einstieg seht. Für den einen zu langsam (Hook im ersten Satz), für den anderen zu schnell (erstmal soll sie es leicht nehmen).
Wie gesagt, Genre-Konventionen kenne ich nicht ( :nudelholz: Mangel an Recherche, aber anscheinend habe ich euch irregeführt, sorry, es geht 'nur' um eine Übungsaufgabe, nichts Abzulieferndes). Ich hatte auch mehr so ein Bild von Irritation und Unbehagen (dazu die ablenkende Fokussierung auf diverse Nebensächlichkeiten und dazwischen die Anzeichen, dass Ablenkung nicht recht hilft, wie der rumorende Milchkaffee, das Klammern am Lenkrad usw.).

Deine verkürzte Fassung, Quisille, gefällt mir allerdings auch. Na, soweit mir Thrill gefällt.

Zitat
Rückblenden sind kontraproduktiv.
Wenn ich dich richtig verstehe, sind sie das, weil sie aus der akuten Situation rausblenden, und damit aus der gefühlten Gefahr.
Gilt das dann auch, wenn die Botschaft der SMS sozusagen seit Nachts andauert, immer präsent ist? Denn das macht die Protagonistin ja so nervös. Bis jetzt kann alles eine völlig harmlose Erklärung haben (z.B. hat ein Nachbar ihre Stoßstange angekratzt oder so).

In eben diesem Sinne ist die SMS auch nicht eindeutig.
Zitat
Die Idee ist gut, aber der Satz ist (noch) ein Platzhalter: Er ist zu unkonkret.
Ja, ist er. Aber was, wenn es gar nichts Unheimliches damit auf sich hat und sie alles nur rein interpretiert?


Zitat
Ein Problem beim trillen ist die Ich-Erzählerin. Die hat ein paar Eigenschaften, die dem Schrecken entgegenstehen.
Argumentation verstanden. Und grundsätzlich akzeptiert.  ;D
Nur: Ich finde es sehr viel gruseliger, keine klaren, nachweisbaren Bedrohungen zu sehen, sondern sich nur ständig verfolgt zu fühlen und schließlich nicht mehr zwischen Realität und Einbildung unterscheiden zu können. Also die Angst, möglicherweise den Verstand zu verlieren. Und das muss dann ja wohl die subjektive Wahrnehmung sein, keine neutrale Perspektive. Oder täusche ich mich?

Soweit das, was ich mir dabei gedacht habe. Die Umsetzung muss ja nicht gelungen sein.
Aber ja, eure Kommentare sind mir eine Hilfe und erhellend. Danke!

eska
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Uli

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Re: AT: Guten Morgen!
« Antwort #4 am: 20 September 2017, 22:02:29 »
ay Eska,

das von dir beschriebene Konzept (ein nicht fassbares Unwohlsein, nicht nachweisbare Bedrohungen etc) würde mir ganz gut passen - allerdings eher in der Sparte „subtiler Horror“. Trill braucht eben den Trill, Hochspannung eben.
Den so einzuleiten hingegen finde ich im Prinzip wieder gut, nur braucht es eben die Steigerung ...
Und damit die Option, dass die Prota das nicht mehr slber erzählen kann.
(Ich hatte mal eine Schreibübung angeleiert mit der Aufgabe, dass der Ich-Erzähler dabei umkommt. Das geht durchaus, geht aber meist auf Kosten der Spannung. Leider.
Das Instumentarium für die Innensicht (Zweifel, ob man anfängt wahnsinnig zu werden) steht bei einem außenstehenden Erzähler durchaus auch zur Verfügung, das sollte nicht hindern.
Dazu kommt eben der Vorteil, dass der Erzähler eben mehr weiß - und dem Leser mitteilen kann - als der Ich-Erzähler wissen kann.
Was beim Hauptgewicht auf Spannung eben ein großer Vorteil ist. Bei subtilem Horror hingegen wäre das nicht so wichtig, und da würd ich auch den Ich-Erzähler vorziehen.

Offline Quisille

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Re: AT: Guten Morgen!
« Antwort #5 am: 21 September 2017, 10:08:24 »
Und damit die Option, dass die Prota das nicht mehr slber erzählen kann.
(Ich hatte mal eine Schreibübung angeleiert mit der Aufgabe, dass der Ich-Erzähler dabei umkommt. Das geht durchaus, geht aber meist auf Kosten der Spannung. Leider.

Naja, bei einem Thriller muss die Bedrohung nicht unbedingt vom Ableben des Protagonisten herrühren. Ein Beispiel für einen sauspannenden Psycho-Thriller wäre  "Ich. Darf. Nicht. Schlafen" von S.J. Watson. Übrigens ganz genau so wie im Beispiel hier in erster Person Präsens erzählt. Letzteres suggeriert außerdem eine ablebenskompatible Erzählsituation, das Apokalyptische Log. Ich schreibe hier ja auch in erster Person, und nehmen wir einmal an, es öffnet sich hinter mir leise eine Tür, es tritt jemand ein, ohne dass ich das bemer
  • Ich schreibe gerade: Schandgreif (Band 1, Überarbeitung)

Uli

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Re: AT: Guten Morgen!
« Antwort #6 am: 21 September 2017, 14:47:01 »
grins ...

Schon klar, es geht alles. Und ich habe ja ebenfalls eine erhebliche Schwäche für Ich-Erzähler ...
Nur eben: Triller heißt Hochspannung, und eine Reihe spannungsfördernder Elemente sind dieser Perspektive verwehrt. Das langsam näherkommende seidene Tuch, die Frage, ob Prota das jetzt doch noch rechtzeitig merkt, das klappt nicht.
Nicht, ohne der Spannung abträglich zu sein.
(dein Beispiel baut ja auch keine Spannung auf, sondern öffnet ein Loch: Die Frage, was da passiert ist. Aber das sachte Öffnen der Tür, das langsame Erkennen, dass Es diese Türe öffnet, die Frage, ob Qusille, obwohl grade mit der Lösung des Geheimnisses schwer beschäftigt, doch noch reagieren kann - oder gar Vorbereitungen getroffen hat? - das ist eben nicht da.
Wenn halt Trill gefragt ist, ein Nachteil. Wenn Schrecken gefragt ist, nicht so sehr.

Aber, wie gesagt: Natürlich geht alles - und ich bin der letzte, der irgendwelche Genregesetze für bindend hält. Ich meine nur, dass ein fremdes Genre einfacher zu erschließen ist, wenn man nicht gleich mit Höchstschwierigkeiten anfängt ...

Rilyn

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Re: AT: Guten Morgen!
« Antwort #7 am: 26 September 2017, 12:12:35 »
Hoi eska :)

Ich schreibe zwar keine Thriller, lese aber ab und an welche (Tendenz abnehmend).

Zitat
Der Auftrag lautete, den Anfang eines Thrillers zu schreiben.
Hier steckt das Hauptproblem: Es ist ein Anfang ohne Roman, ohne Ziel, ohne Fokus. Zumindest kommt er so rüber. Die ersten Sätze ...

Zitat
Mist! Der Scheibenwischer stottert. Jetzt sind die Tropfen nicht mehr vereinzelte Linsen, die das Licht brechen und die Sicht verzerren, sondern ein Film von Schlieren, der sich über die Scheibe verteilt. Guten Morgen, Martina!
... sogar der erste Absatz, tragen nichts von der Essenz der Story, außer möglicherweise etwas Stimmung. Allerdings sehe ich darin weniger Kritik am Text als an der Aufgabenstellung.
Klar, man kann auch einen Thriller damit beginnen und plotten, eine solche Szene zu schreiben, aber dass sie auch nur weitgehend so stehen bleibt, ist verdammt unwahrscheinlich.
Ich mag aber, wie ihr Name eingebunden ist und gleich noch ihre Stimmung trägt.

Erbse: ein Film von Schlieren erscheint mir doppelt gemoppelt.

Zitat
Na schön.
Nach "Mist" und "Auch das noch" und "Guten Morgen" wird es zu viel mit diesen Einwürfen, zumal wieder einer am Anfang des Absatzes steht. Dieser hier kann einfach weg.

Zitat
Ich öffne den Gurt, die Tür, steige aus. Irgendetwas hat sich da verfangen. Auch Gleitsichtbrillen nützen nichts bei Regen.
Rumdrehen. :)
Wenn du mit den Schlieren beginnst, dann halte den Fokus auf dem, was sie verursacht, und lass die Figur dann agieren, sonst holpert der Text, und die Spannung zieht Schlieren. :grinwech:

Zitat
Diesen Impervius-Zauber von Hermine müsste man haben.
Hmm, zu konkret. Bei mir ist es schon beinahe Zufall, dass ich Harry Potter kenne. Was der Zauber macht, weiß ich nicht, nur mein bisschen Latein hilft weiter. Und selbst, wenn man's weiß, wird noch mehr Gewicht auf die Umgebung gelegt, weg vom Problem.

Zitat
Auf Zehenspitzen balanciere ich auf dem Kopfsteinpflaster und angele,
Ist der Untergrund wichtig? Hier geht der Grund ihres Angelns fast komplett verloren.

Zitat
neben mir spritzen die Vorbeifahrenden durch die Pfützen. Meine Strümpfe sind schon nass. Da!
Sie kommt mir außerdem halbblind vor, Regen oder nicht, ihr Auto hat doch sicher Innenbeleuchtung. Auch wenn nicht, lass sie etwas konkreter vorgehen, nicht "angeln", sondern den Scheibenwischer wegklappen und abwischen, etwas in der Art.

Zitat
Ein Stöckchen, nichts weiter.
:glotz:
Liegt vielleicht dran, dass mein Bruder ätzende Geschichten aus der Werkstatt erzählt, aber ein Stöckchen klingt nicht wie "nichts weiter", sondern nicht gut für die Scheibe.

Zitat
Ein Lächeln breitet sich in mir aus. Erleichterung. Alles okay. Ab in die Tonne damit und gut.
Was immer es ist, was hat sie denn erwartet? Bisher war das Ganze nur eine Alltagsepisode, deren schlimmstmöglicher Ausgang in etwa lautete: der Scheibenwischer ist kaputt. Jetzt wird es seltsam. Weshalb das Lächeln und die Erleichterung?

Zitat
Kurz bevor ich es wegwerfen will, fühle ich es: eine Kante, glatt und gerade. Tesafilm. Kein Stöckchen. Ein eingerolltes Stück Papier, sorgsam umwickelt, kein bisschen durchweicht.
Das fühlt sich schwer anders an als ein Stöckchen, vermute ich, und die Farbe ist völlig anders. Überspring die Fehleinschätzung am Besten ganz.

Zitat
Der Milchkaffee rumort in meinem Magen. Es tropft aus meinen Haaren.
"Es" sollte Regenwasser sein, um eindeutig wieder zum Außen zu lenken. Auf der anderen Seite: besser umgekehrt, hin zu ihr? Ich bin nicht siche, denn "rein ins Haus" ist eher mit dem Regen verbunden.

Ansich hat der Absatz aber ein größeres Problem:
Zitat
Ich starre auf die vielleicht zwei Zentimeter und versuche, mich zu fassen.
Warum denn? Hier weiß die Figur mehr als ich, und sie löst das auch nicht sofort auf. Dadurch entsteht weniger Spannung, als dass die Taktik Abstand zur Figur schafft.

Zitat
Was jetzt - rein ins Haus und lesen oder weiter? Ich muss los. Egal, was da jetzt wieder steht, die Schule wartet nicht. Ich steige ins Auto, umklammere das Lenkrad. Mir ist schlecht.
Eine wilde Abfolge ohne nennenswerten Konflikt, da ich als Leserin weder weiß, was es mit dem Zettel auf sich hat, noch, dass sie für den größten Teil der Entscheidungsfindung in die Schule muss. Und schon gar nicht - zum Teil eben darum - wie sie sich fühlt.
Ein Teil des mangelnden Konflikts steckt im "rein ins Haus" ... weshalb denn? Im Auto gibt es Licht. Und dass die Protagonistin daran vielleicht gar nicht denkt, dass "Haus" auch "Tür zu und sicher" bedeuten kann, das kann hier so unkonkret noch kaum rüberkommen. Falls es relevant ist, wäre das aber interessant, zumal ein weiterer Aspekt dazukommt: sie hat im Haus, durch die SMS, zum ersten Mal von etwas erfahren. "Und (die Botschaft) klemmt noch nicht lange hier" sagt außerdem aus, dass sie sich im Auto nicht ein Bisschen sicher fühlt. Diese Aspekte sind hier zu sehr durcheinander gefürfelt, um Wirkung zu entfalten.

Zitat
„Du wirst schon sehen.“ Da sind sie wieder, diese Worte von heute Nacht, ungerufen, eingebrannt in mein Gedächtnis wie in ein Display ohne Bildschirmschoner.
Hmm, ich mag den Vergleich nicht, er bringt nichts. "Ohne Bildschirmschoner" trägt ein bisschen was davon, dass sie das nicht vergessen kann, aber "da sind sie wieder" hat das schon vorweg genommen, sogar ausnehmend spät in der Abfolge dessen, was eben geschehen ist. An diesen Worten hängt Angst, und die wartet normalerweise nicht brav, bis über lesen oder nicht lesen der Botschaft entschieden wurde (was es nicht wurde, aber das ist okay, sie versucht ja noch, ihren normalen Tagesablauf beizubehalten.)

Zitat
Erst eine SMS um drei Uhr nachts auf meinem privaten Handy, die Nummer rück ich nicht oft raus, und jetzt, um halb acht, eine physische Botschaft. Und sie klemmt noch nicht sehr lange hier.
Die Rekapitulation in diesem Absatz hilft der Spannung auch nicht auf die Sprünge. Die Botschaft ist da, ungelesen, die Figur weiß wieder mehr als ich, und ich will sie nur anpieken, den Zettel endlich zu öffnen. Ich verstehe - oder würde verstehen - dass sie unfähig ist, das zu tun, dass sie nicht entscheiden oder reagieren kann, dass ihr im Gedankenkarussel schlecht wird, aber ich bin gefühlt viel zu weit weg von ihr, und die Hälfte dessen ist bloße Annahme.

Die notwendigen Informationen kommen viel zu spät. Je nachdem, was die Geschichte hergibt, könnte sie wirklich um drei aufwachen und die SMS lesen. Damit gibt es auch einen, der sie abgesendet hat, und einen schnellen Stimmungsumschwung von z.B. ruhiger Nacht (kann ungenannt bleiben) zum Inhalt der SMS und den Gedanken, die daran anschließen. Pläne, Polizei, wenn nicht, weshalb nicht? Ignorieren wollen und nicht können, den Rest der Nacht wach bleiben, etwas in der Art.
Ich nehme an, dass diese Szene hier ein zu später Einstieg ist, weil sie es nötig macht, die Informationen über alles Frühere zu vermitteln und zugleich eine Stimmung zu erzeugen, die ohne diese Informationen nicht möglich ist; und zudem noch eins draufsetzen muss durch die neue Botschaft.

Ein weiteres Hauptproblem nach dem Ablauf, aber damit verknüpft, ist die Gewichtung. Ich habe den Text schon vor ein paar Tagen gelesen, und meine Erinnerung war vor allem die an den Regen. Die SMS hatte ich sogar fast vergessen. Nicht, dass der Regen verkehrt wäre, es kann helfen, Eindruck an etwas festzumachen, das mehr Sinne anspricht als eine SMS oder ein Blatt Papier, aber er drängt sich in den Vordergrund die eigentlichen Spannungselemente schaffen es nicht, der Atmosphäre und vor allem sich selbst Rechnung zu tragen.


Thrill: Den fühle ich nicht wirklich, weil aufgrund von zu vielen Unbekannten nichts nachvollziehbares auf dem Spiel steht und ich das Innenleben der Hauptfigur fast nur aus deren eigener Beschreibung mitbekomme.

Ich-Erzähler: Meiner Meinung nach ist die Perspektive für einen Thriller völlig irrelevant, wenn sie gut ist (okay, auktorial finde ich nicht sehr thrillertauglich). Die Probleme hier wären in der personalen Perspektive dieselben. Der Rest sind Schreib- und Lesevorlieben; ich ziehe die 3. Person vor. Aber die 1. hat mich hier nicht gestört.


Ich hoffe, mein bisschen Blah hilft dir weiter. :kaffee2:

Liebe Grüße,
Ril
« Letzte Änderung: 26 September 2017, 18:18:33 von Rilyn »

Robur

  • Gast
Re: AT: Guten Morgen!
« Antwort #8 am: 27 September 2017, 14:44:36 »
Moin moin

Dann versuche auch ich mal meinen Senf hinzuzugeben :)

Leider muss ich als feststellen, dass mich dein Beginn nicht packt. Er schreckt nicht ab, doch wenn ich weiterlesen sollte müsste jetzt rasch etwas Interessantes kommen.
Ich denke man kann einen Thriller langsam beginnen oder mit einem Hook. Beim langsamen Beginn nimmt man sich Zeit die Charaktere zu beschreiben und beim Hook springt man gleich mitten ins Geschehen hinein und die Charaktere bleiben zunächst im Hintergrund (Ich behaupte das jetzt einfach mal ohne die Konventionen tatsächlich zu kennen).
Ich habe den Eindruck, dass du beides gleichzeitig machen wolltest – den Prota knapp vorstellen um dass hurtig zum Hook zu kommen – was meiner Ansicht nach leider nicht funktioniert hat.

Zudem kann ich mir noch kein klares Bild von deinem Prota machen: Harry Potter würde auf eine Person um die Dreißig (oder jünger) verweisen – während eine Gleitsichtbrille für mich eher auf 50+ hindeutet - wobei ich eine Harry Potter-lesende Rentnerin interessanter finden würde als eine 30ig-jährige mit Gleitsichtbrille ;) Aufgrund des Namens und der Arbeit vermute ich aber eher eine Lehrerin um die dreißig.

Bei der Rückblende denke auch ich, dass sie hier eher ungeschickt ist. Würde eher mit der SMS beginnen (ich bin aber auch eher ein Anhänger von langsamen Texten).

Das nicht erfassbare Unwohlsein greift bei mir vermutlich nicht so wirklich, weil mich der Beginn nicht so packt. Wenn man das anstrebt würde ich in jedem Fall den langsamen Beginn wählen – was sich eh anbietet, denn ein Zettel hinter dem Scheibenwischer ist jetzt nicht soooo der erschreckende Hook – könnte auch der Nachbar sein, der sich darüber beschwert, dass man wieder schief geparkt hätte oder so ;)

Liebe Grüße,
Robur

Offline Ayira

  • Röstdämon
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Re: AT: Guten Morgen!
« Antwort #9 am: 28 September 2017, 08:21:52 »
Hallo eska,

ich lese selber gern Thriller und mag diese Spannungselemente auch in meinem eigenen Buch - zum Beginn wurde von den anderen ja schon angemerkt, entweder "langsam" oder "gleich der Hook". Ich mag beides, wobei ich es fast noch interessanter finde, vorher eine Sympathie zum Opfer/der Prota aufzubauen; in dem Wissen, es passiert dann wohl gleich was ...

Daher - mir gefällt der erste Satz als Einstieg/zur Vorstellung:
Zitat
Mist! Der Scheibenwischer stottert. Auch das noch. Jetzt sind die Tropfen nicht mehr vereinzelte Linsen, die das Licht brechen und die Sicht verzerren, sondern ein Film von Schlieren, der sich über die Scheibe verteilt. Guten Morgen, Martina!

Der Rest versagt dann leider, weil es mit dem Hook zu schnell geht, aber die Prota noch am selben Fleck klebt.
Vorschlag: Sie ist mit dem Auto grad irgendwo in der Innenstadt. Es regnet, der Scheibenwischer geht nicht (richtig - aber nirgends hat sie eine Möglichkeit zu halten, um nachzuschauen. Du hättest so noch etwas Gelegenheit, in ihrer Frustration mehr zum Charakter und ihrer Situation zu sagen. Vielleicht weil sie schon längst einen wichtigen Termin hat/etc. Dann, langsam, eine Anspielung auf ihr "Problem" (als Sahnehäubchen zu all dem restlichen Mist) - wenns geht, zweideutig (find ich immer klasse). Sie verdrängt es (noch - es scheint ja ein Scherz zu sein), hat den Kopf ganz woanders - irgendwo findet sie dann aber doch eine Möglichkeit zum Halten und du kannst sie den Zettel finden lassen, der die Zweideutigkeit eindeutig macht.

Ein weiterer Haken ist die Nachricht selbst:
Zitat
„Du wirst schon sehen.“
... klingt nicht sehr bedrohlich. Da fehlt eben leider die Geschichte dahinter. Je nachdem, in welche Richtung die geht, wären Vorschläge: "Du bist mein" - "Bezahl für deine Sünden" - "Ich weiß, was du getan hast" - "Es ist deine Schuld" ...

Es gibt auf dieser Welt x Milliarden Menschen.
Warum stellt der Killer MARTINA nach? Was hat sie gemacht, was sie von dem Rest unterscheidet/besonders macht?
Darauf muss sich die Nachricht an sie beziehen.
Nur dafür muss dir klar sein, worüber deine Geschichte handelt - und welche Motivation der Killer verfolgt. Vor allem, wenn dieser Nachrichten schreibt! In denen steckt des Rätsels Lösung.

Etwas freier würde es sich m.M. nach gestalten, wenn du den Einstieg des Romans mit dem Mord an sich beginnst. Ohne Nachricht. Aus ihrer Sicht, in den letzten Minuten ihres Lebens. ODER aus seiner, wie er auf der Lauer liegt, beobachtet, in Vorfreude ... bis er zuschlägt.  :diablo:

Hoffe, es hilft dir
lg
  • Ich schreibe gerade: Neseret - Atem des Feuergottes

Offline eska

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Re: AT: Guten Morgen!
« Antwort #10 am: 28 September 2017, 13:01:30 »
Danke auch euch, Ril, Robur und Ayira für eure Kommentare.

Ich bin erst heute dazu gekommen, sie überhaupt zu lesen, zu durchdenken noch nicht, aber da steckt eine Menge drin, über das nachzudenken sich lohnt.
Von Struktur diese Textabschnittes über Einsicht in das Innenleben der Protagonistin oder Erzählstimme, Tempo und Wahl der Einstiegsszene ... es erstaunt und begeistert mich immer wieder, wie viele Nuancen unser Lesen prägen. Fünf aufmerksame Leser, fünf unterschiedliche Wahrnehmungen - dass der Text so noch nicht funktioniert (oder höchstens in Teilen) ist eines, was alles mit welchem Fokus veränder- und verbesserbar wäre, ist das andere.

Deshalb vielen Dank!

eska
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