Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
~ Hermann Hesse ~
Urmel
Fest eingewickelt in ihren weichen Wollmantel, saß Marianne auf der Bank unter dem Ahorn, den sie vor beinahe vierzig Jahren an dieser Stelle gepflanzt hatte. Sie hielt ein zerknülltes Taschentuch an ihre Lippen, während sie ihren Blick schweifen ließ.
Vor ihr breitete sich der urwüchsige Garten aus, vereinzelte welke Blätter auf dem feuchten Gras, kahle Sträucher, in Jute verpackte Rosenstöcke; bald würde der Frost das letzte Grün mit Reif überziehen. Ein Hustenanfall schüttelte sie.
Als sie hörte, wie die Terrassentür geöffnet wurde, wandte sie den Kopf und sah, wie die kleine Mia heraustrat.
Ihre Enkelin, kaum sieben Jahre alt, hatte sich eine bunte Wollmütze über die kecken Zöpfe tief über die Stirn gezogen. Ihr leuchtend grüner Herbstmantel hob sich deutlich vor dem roten Backsteingebäude ab. Ihre kleinen Füße steckten in quietschgelben Gummistiefeln. Das Mädchen schloss die Tür, dann drehte es sich um und lief fröhlich lächelnd auf sie zu.
Marianne verbarg das Taschentuch in ihrer Manteltasche, dann breitete sie die Arme aus. Sie herzten sich eine Weile, dann setzte sich Mia neben sie und sah sie aus ihren aufmerksamen Kinderaugen an. „Mama hat gesagt, du bist sehr krank.“
„So, hat sie das?“ fragte Marianne.
Mia kniff die Lippen aufeinander, dann nickte sie. Ihre Stimme glich einem Wispern als sie schließlich fragte: „Wirst du sterben?“
Milde lächelnd nahm Marianne die kleine Hand des Mädchens in die ihre, suchte nach Worten, was sollte sie ihr sagen; wie sollte sie ihr erklären? Schließlich fragte sie: „Habe ich dir eigentlich jemals die Geschichte von Urmel erzählt?“
Mias Zöpfe wippten, als sie den Kopf schüttelte.
„Urmel war eine Katze, die nicht hatte leben sollen und doch älter wurde als alle anderen Katzen, die ich jemals gekannt habe.“
„Warum sollte sie nicht leben?“, fragte Mia.
„Sie wurde auf einem Bauernhof geboren und der Besitzer war ein böser Mensch. Er steckte die kleine Babykatze in einen Sack und wollte sie ertränken, aber deine Urgroßmutter hat ihn dabei erwischt und zog den Sack aus dem Bach.“
„Sie hat die Katze gerettet?“
„Ja, das hat sie.“
„Das ist gut“, sagte Mia und nickte.
„Finde ich auch. Deine Urgroßmutter hat sie mit der Flasche aufgezogen und als sie dann alt genug war, machte sie mir die Katze zum Geschenk. Ich gab ihr den Namen Urmel und sie lebte viele Jahre bei mir. Einmal hat sie sogar kleine Katzenkinder bekommen.“
„Hast du sie alle behalten?“, fragte Mia.
Marianne schüttelte den Kopf. Nein, ich habe sie in nette Familien abgegeben. Eine von ihnen blieb zunächst bei mir, aber als ich merkte, dass sie zu große Angst vor dem Hund hatte, gab ich Chianti auch ab. In ihrer neuen Familien sollte sie es ruhiger haben.“
Mia schwieg eine Weile, dann fragte sie: „Hast du ihre Kinder noch mal wiedergesehen?“
„Ja, in der Tat“, sagte Marianne. „Ich hätte niemals damit gerechnet, doch eines Tages wurde Chianti zu mir zurückgebracht – sie war sehr krank.“
„Oh nein.“
„Urmel war schon beinahe zwanzig Jahre alt. Erstaunlich war, dass sich die beiden Katzen nach all der Zeit beschnuppert und angegurrt haben, ganz so, als hätten sie sich tatsächlich wiedererkannt.“
„Ist Chianti gestorben?“
„Ja, das ist sie. Sie war zu schwach.“
„Urmel war dann bestimmt traurig.“
„Ich denke schon, aber soll ich dir etwas sagen?“
Mia sah sie erwartungsvoll an.
„Ich glaube, Chianti war noch da.“
„Aber sie war doch gestorben.“
„Das ist richtig, aber eines Abends, als ich schon zu Bett gegangen war, kratzte etwas an meine Tür. Ich bin aufgestanden, um Urmel einzulassen, aber als ich die Tür geöffnet hatte, war sie nicht da.“
„Vielleicht hast du dich vertan?“
„Einige Wochen später ist deinem Großvater dasselbe passiert. Auch er hörte dieses Kratzen, aber als er die Tür geöffnet hatte, war der Flur leer. Und als wir wenige Wochen später gemeinsam am Frühstückstisch saßen, hörte es sich plötzlich so an, als würde eine Katze an der Couch kratzen. Der Hund bellte auf und wollte sie verscheuchen, wusste aber nicht wo er hinlaufen sollte, denn da war keine Katze. Wir haben alles abgesucht und nichts gefunden.“
„Das ist gruselig.“
„Findest du?“
Mia nickte.
Marianne drückte die kleine Hand und sagte: „Ich finde nicht, denn ich denke, dass Chianti auf ihre Mutter gewartet hat. Urmel war ja schon sehr alt und wurde von Tag zu Tag schwächer.“
„Und dann ist Urmel auch gestorben“, sagte Mia.
Marianne nickte. „Es ist beinahe vierzig Jahre her und doch denke ich ab und zu an sie. Als Urmel mich verlassen hatte, hörten die Geräusche auf. Ich bin davon überzeugt, dass Chianti ihre Mutter abgeholt hat.“
Sie saßen schweigend beieinander. Marianne ließ die gedankenschwere Stille auf sie beide wirken, dann sagte sie: „Weißt du, Mia, ich glaube, nach dem Leben ist nicht alles zu Ende. Da gibt es noch viel mehr, dass wir nur nicht verstehen.“
Sie zog ihr Taschentuch aus dem Mantel und hielt es sich an die Lippen um einen weiteren Hustenanfall zu dämpfen. Schließlich verbarg sie es in ihrer Faust und lächelte auf ihre Enkelin hinab. Dann ließ sie ihren Blick erneut über den Garten schweifen und sagte: „Neudings ist mir, als sei dein Großvater hier bei uns und manchmal glaube ich ihn zu hören.“
„Wartet er auf dich?“, fragte Mia traurig.
Marianne legte ihr den Arm um die kleinen Schultern, zog sie an sich heran und küsste sie auf die Mütze. Schließlich sagte sie sanft: „Ja, mein Kind.“