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Grill / Re: (KG) Wandertag
« Letzter Beitrag von nus am 12 January 2023, 16:16:59 »
Liebe eska!

Danke für Deine ausführliche Rückmeldung!


Zitat
… dieses Gefühl der Unbesiegbarkeit, das - so verstehe ich es - den Reiz der Verdammten Miststücke ausmacht.
Ja, genau, das ist es, was diese kleinen Bitches lockt.  ;D

Zitat
Ja, das können sie sein, Kinder und andere Menschen, die sich (noch) nicht in ihr Gegenüber einfühlen: verdammte Miststücke, machen Ärger aus Spaß daran. Und dann, einen Fingerbreit daneben, sitzt die andere Seele klein und zittrig in ihrer Brust und bricht zum Ende hervor. Vielleicht bedingt diese sogar die andere. Vielleicht müsste Mimi sich Carla gegenüber nicht beweisen, wenn sie sich nicht unbedeutend fühlte. Vielleicht müsste sie die Kratzer und Wunden nicht ertragen, wenn da nicht andere viel stärker brennen würden.
Stimmt!

Zitat
… auch die von Sassmann. In den Augen der Kinder ist er eine Null, ist das Opfer ihrer Angriffe, verzählt sich dann auch noch endgültig (Superschachzug!), damit ist er disqualifiziert. Mimi malt sich aus, wie er in Panik verfallen und sie das genießen wird. Wie du das umgedreht hast, dass sie in Panik ist und er nichts sagt (!), nur vor ihr herstiefelt, das ist große Klasse!
Jep. Diese Geschichte ist im Grunde eine David-gegen-Goliath-Geschichte. Ich habe dazu letztens (als ich noch um das Ende gerungen habe) einen Linolschnitt gemacht. Wenn ich das nächste Mal an meinem Rechner sitze, lade ich ihn mal hoch.

Zitat
Weil wir bei Realismus sind: Zwei Stunden Pause sind viel zu lang, da würden alle Schüler übermütig. Eine halbe Stunde maximal zum Ausruhen, und das erst, wenn die Kids ziemlich geschafft sind, vor allem, weil da ja nichts ist, was sie beschäftigt.
Ok, das nehme ich auf.

Zitat
Diesen Absatz hier liebe ich: Augen und Ohren, die beiden Hauptsinne versagen, sofort setzt die Fantasie ein. Aus dem friedlichen, stillen Waldstück wird die Bedrohung.
:blush:

Zitat
Das mit den Würmern finde ich ein gewagtes Bild, es hat mich aber nicht gestört. Dass Angst einen zum Würgen bringt, kann ich nachvollziehen, die schleimigen Leiber nicht - glücklicherweise. Im Nachhinein überlege ich allerdings, ob sie für diesen Vergleich nicht wirklich mal Würmer im Mund gehabt haben muss.
Auch wenn‘s Dich nicht gestört hat, versuche ich es mal mit einem anderen Bild. Habe zwar noch keine zündende Idee, aber ich denke drüber nach.

lg
nus
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Grill / Re: (KG) Wandertag
« Letzter Beitrag von eska am 11 January 2023, 23:09:38 »
Hi Nus. :)

Neues Grillgut ist ja immer was Schönes. *Hände reib*
Und es passt gut, dass ich heute Abend Zeit habe.

Aber vor allem lockt mich deine Geschichte, hat mich gelockt, schon durch den Titel, hat mich gepackt, eigentlich gleich bei den ersten Worten, spätestens beim

Zitat
Heute wird sie beweisen, dass sie Carlas Gunst verdient hat.

Und dann ist sie so stimmungsreich, so viele kleine Details nehmen einen mit in den Wald, in die Hitze, in die Verachtung der Kinder für ihre ach so dämlichen Lehrer-Erwachsenen. In dieses Gefühl der Unbesiegbarkeit, das - so verstehe ich es - den Reiz der Verdammten Miststücke ausmacht.

Was gefällt mir besonders?
Sie ist vom Timing her gut austariert, entwickelt sich langsam, lässt sich und uns Zeit, alles aufzunehmen, vielleicht anhand der kleinen Hinweise die Schrecken des Endes uns ausmalen, kreiert gekonnt Spannung. Ich ahne schon, das es Mimi darum geht, sich abzusondern (gegen den andauernden Befehl zusammenzubleiben), argwöhne zwischendurch, dass Carla aber gar nichts sagen und sie deutlich länger sitzen lassen wird, grusele mich einen Moment mit ihr mit, wer denn da rumschleicht.

Diese Mädchen, die genau wissen, was sie anrichten wollen und können, die die anderen, aber auch sich selbst genau beobachten und analysieren - das ist kein Versatzstück, sondern präzise eingefangene Beobachtung. Ja, das können sie sein, Kinder und andere Menschen, die sich (noch) nicht in ihr Gegenüber einfühlen: verdammte Miststücke, machen Ärger aus Spaß daran. Und dann, einen Fingerbreit daneben, sitzt die andere Seele klein und zittrig in ihrer Brust und bricht zum Ende hervor. Vielleicht bedingt diese sogar die andere. Vielleicht müsste Mimi sich Carla gegenüber nicht beweisen, wenn sie sich nicht unbedeutend fühlte. Vielleicht müsste sie die Kratzer und Wunden nicht ertragen, wenn da nicht andere viel stärker brennen würden. Du deutest ja nichts Konkretes an, aber warum sehnt sich Mimi so nach einem großen Bruder? Eine sehr schöne Charakterzeichnung also. Und nicht nur von Mimi und Carla, auch die von Sassmann. In den Augen der Kinder ist er eine Null, ist das Opfer ihrer Angriffe, verzählt sich dann auch noch endgültig (Superschachzug!), damit ist er disqualifiziert. Mimi malt sich aus, wie er in Panik verfallen und sie das genießen wird. Wie du das umgedreht hast, dass sie in Panik ist und er nichts sagt (!), nur vor ihr herstiefelt, das ist große Klasse! (Wobei ich als Lehrerin nicht glaube, dass das ein Lehrer in der Situation könnte, einfach schweigende Autorität sein, die reden, trösten usw., aber das ist nebensächlich.)

Weil wir bei Realismus sind: Zwei Stunden Pause sind viel zu lang, da würden alle Schüler übermütig. Eine halbe Stunde maximal zum Ausruhen, und das erst, wenn die Kids ziemlich geschafft sind, vor allem, weil da ja nichts ist, was sie beschäftigt. Wahrscheinlich hätten die Lehrer irgendein Spiel dabei, ein Quiz, eine Rallye, einen Auswertungsbogen der geforderten Beobachtungen dieses Waldwandertages (Lernziel Ökosystem oder Baumarten oder Waldtiere oder oder). Machen bei Freiwilligkeit natürlich nur die Streber mit.

Diesen Absatz hier liebe ich: Augen und Ohren, die beiden Hauptsinne versagen, sofort setzt die Fantasie ein. Aus dem friedlichen, stillen Waldstück wird die Bedrohung.

Zitat
Nach dem hellen Sonnenlicht haben ihre Augen Schwierigkeiten, etwas zu erkennen. Gleißende Flecken tanzen zwischen den dunklen Baumstämmen umher. Trockene Äste knacken unter ihren Füßen. Es riecht nach Holz und Wärme, und es ist ganz still. Sie bleibt stehen und lauscht. Erst jetzt wird ihr bewusst, wie still. Kein Vogelgezwitscher, kein Wind in den Wipfeln der Fichten, nicht einmal das ferne Rauschen einer Straße. Sie hört nur ihr eigenes Ein- und Ausatmen, und als sie die Luft anhält, hört sie gar nichts mehr.

Das mit den Würmern finde ich ein gewagtes Bild, es hat mich aber nicht gestört. Dass Angst einen zum Würgen bringt, kann ich nachvollziehen, die schleimigen Leiber nicht - glücklicherweise. Im Nachhinein überlege ich allerdings, ob sie für diesen Vergleich nicht wirklich mal Würmer im Mund gehabt haben muss.
Und im selben Gedanken: Sie will sich so klein und tot stellen, dass sie

Zitat
Nichts mehr spürt, keine Angst, keine Reue, nichts.

Das mit der Reue klingt nach einer realen Bestrafungssituation. Bringt mich zu dem detailliert imaginierten Keller. Lässt mich vielleicht weiter denken, als du es hier brauchst und möchtest.


So viel für heute Abend.
Danke fürs Einstellen!

Gute Nacht.

eska

P.S:: Die wischenden Zöpfe sind mir komisch aufgefallen. Wippen passt für mich besser.
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Grill / (KG) Wandertag
« Letzter Beitrag von nus am 11 January 2023, 17:08:58 »
Hallo liebe, Teufels!
Ich habe etwas Neues für den Grill. Vielleicht erinnert sich der/die Eine oder Andere an eine alte Version, die ich nicht überarbeitet, sondern komplett neu geschrieben habe.
Mir geht es - wie schon bei Pietà - nicht darum, ob die Geschichte "funktioniert". "Funktionieren" bedeutet ja, dass etwas, das der Autor ausdrücken will, auch tatsächlich beim Leser ankommt. Mir geht es darum, ob Euch die Geschichte anspricht. Wenn nicht - dann nicht. Wenn ja - dann würde mich interessieren, was Ihr darin/daran findet.
Es sind aber auch alle anderen Anmerkungen willkommen!
Danke für Euer Feedback!
 :-* nus

Wandertag

Verdammtes Miststück - die höchste Auszeichnung. Außer Mimi dürfen sich bislang nur Irina und Deli Verdammte Miststücke nennen. Es gibt noch zwei Anwärterinnen auf diesen Titel in der Klasse: die Milberg-Zwillinge. Aber ob sie es jemals schaffen werden, ist nicht sicher. Die pechschwarzen Pferdeschwänze der beiden wippen direkt vor Mimi im Takt ihres Gleichschritts. Die Zwillinge machen alles zusammen. Wenn sie es überhaupt schaffen, dann müssen sie sich wahrscheinlich einen Titel teilen.

Mimi drückt den Rücken durch. Heute wird sie beweisen, dass sie Carlas Gunst verdient hat. Vielleicht sogar mehr als das. Mit ihrem Plan hat sie Carla beeindruckt. Wenn sie ihn jetzt in die Tat umsetzt, dann wird sie nicht nur die Anführerin, sondern alle beeindrucken.

Sassmann ist am Morgen mit ihnen losmarschiert, und außer dem ständig verheulten Timmi, der angeblich Fieber hat – mitten im Sommer! – ist die ganze Klasse angetreten. Die Sonne brennt, während sie über den langen, schnurgeraden Feldweg marschieren, und Sassmanns Glatze glänzt wie poliert.

Carla hat sich heute die neongelbe Basecap von ihrem großen Bruder ausgeliehen. Mimi könnte sterben vor Neid, nicht nur wegen der Kappe, sondern noch mehr, weil sie auch gern einen großen Bruder hätte. Aber daran will sie jetzt nicht denken. Carla stößt sie mit dem Ellbogen in die Seite, und sie lachen sich tot über Sassmanns plattfüßigen Gang und über die Faxen der Jungs. Mimi sieht zu den anderen Verdammten Miststücken hinüber und registriert mit Genugtuung deren Blicke. Sie, Mimi, ist heute schon seit dem frühen Morgen an Carlas Seite, und wenn ihr Plan aufgeht, wird das auch weiterhin so bleiben.


Endlich kommt der Wald in Sicht und damit die Hoffnung auf ein bisschen Abkühlung. Carla hält Mimi am Arm fest.

„Wann?“, flüstert sie.

„Nach der Mittagsrast“, flüstert Mimi zurück.

Im Wald ist es kühler. Sassmann tupft seine Glatze mit einem Stofftaschtuch ab. Nachdem er das schon unzählige Male getan hat, muss das Taschentuch klamm sein von seinem Schweiß. Mimi sieht zu Carla und schneidet eine Grimasse. Hinter ihr ist die Stimme von Frau Jenne zu hören.

„Luca, David, hört auf mit der Rangelei, Deli, gib Rebekka ihre Trinkflasche zurück, Irina, lass das ...“

Die Ermahnungen sind eine endlose, monotone Begleitmelodie, mit dem immer gleichen Refrain: „Bleibt zusammen!“

Die Lehrer sind nervös. Mimi weiß, warum. Wegen Philipp S., zehn Jahre alt, genau wie Mimi. Sein Name ist seit Wochen in den Nachrichten. Ein Mann hat ihn entführt, und dann ... An diesem Punkt schalten Mimis Eltern das Radio oder den Fernseher auf einen anderen Sender. Auf dem Foto, das sie in den Nachrichten gezeigt haben, sieht er ein bisschen aus wie Timmi. „Was interessiert uns so eine Heulsuse?“, hatte Carla gesagt. Nur Heulsusen werden entführt. An ein verdammtes Miststück traut sich niemand ran. Als die Meldung kam, dass Philipp S. gefunden wurde, tot, hat Carla nichts mehr dazu gesagt.

Mimis Beine fühlen sich schwer an. Im Schatten der Fichten tanzen Sonnenflecken auf dem Weg. Carla hebt einen Fichtenzapfen auf und zielt damit auf Sassmanns roten Nacken, verfehlt ihn aber. Die Miststücke kichern. Mimi lächelt in sich hinein. Das war nichts. Sie hat den Verdacht, dass der Versuch, Sassmann zu treffen, gar nicht so ernsthaft war. Das, was sie vorhat, ist dagegen wirklich ernsthaft. Carla mag einen großen Bruder haben, den alle bewundern und vor dem sie vielleicht sogar ein wenig Angst haben, aber wenn Mimis Plan aufgeht, wird sie aus Carlas Schatten hervortreten und nicht länger eins von den Miststücken sein, sondern jemand, der sich Titel für die anderen ausdenkt.

Carla geht schneller, lässt Mimi hinter sich und zwängt sich zwischen die Zwillinge. Sofort wenden die beiden sich ihr zu, und der schwesterliche Gleichschritt kommt aus dem Rhythmus. Mimi kann nicht verstehen, was Carla sagt, aber das aufgeregte Wischen der Zwillingspferdeschwänze deutet auf einen neuen Auftrag hin. Tatsächlich steckt Carla ihnen etwas zu und lässt sich wieder zurückfallen.

„Das wird lustig“, raunt sie Mimi zu.

Irina und Deli schließen zu ihnen auf.

„Mimi hat was vor“, informiert Carla sie.

„Was?“ Deli reißt gierig die Augen auf. „Erzähl!“

„Ihr werdet’s sehen“, gibt Mimi zurück und wechselt einen schnellen Blick mit Carla.

„Komm schon“, drängt Irina. „Ein Stichwort.“

„Verstecken“, sagt Mimi.

Delis Augen werden noch größer.

„Verstecken?“ Irina klingt enttäuscht. Und erleichtert.

Die Zwillinge vor ihnen drehen sich um und lassen fast synchron zwei große pinkfarbene Bubblegum-Blasen platzen. Carla macht eine ungeduldige Geste in ihre Richtung. Die beiden beschleunigen ihren Schritt und drängen sich rechts und links an Sassmann vorbei. Zwei pinkfarbene Andenken bleiben an seinem Rücksack zurück. Eines davon fällt bereits nach wenigen Sekunden auf den Weg. Mimi macht einen großen Schritt, um nicht daraufzutreten. Das zweite tropft ins trockene Gras, als sie die Lichtung erreichen und Sassmann den Rucksack absetzt. Mimi sieht zu den Zwillingen, die betrübt die Stirn runzeln. Den Titel können sie sich in die Haare schmieren.

Frau Jenne stellt sich an Sassmanns Seite und erklärt, dass alle ab jetzt zwei Stunden Zeit haben zum Picknicken, Ausruhen, Herumlaufen. „Auf jeden Fall in Sichtweite bleiben, und das heißt: maximal zehn Schritte von der Lichtung in den Wald. Zehn Schritte!“

Mimi sieht sich verstohlen um. Die Lichtung grenzt zur einen Seite an den Fichtenwald. Auf der anderen Seite drängt sich dichtes Gebüsch heran, Brombeergestrüpp, Haselnusssträucher. Dahinter beginnt ein aufgelockerter Wald aus Nadel- und Laubbäumen. Die Bedingungen für ihr Vorhaben können nicht besser sein.

Die Lichtung selbst ist mit hohem, trockenem Gras bewachsen, über dem Insekten schwirren. Drückende Hitze liegt darüber, und Mimi hätte sich gern einen Platz im Schatten gesucht, aber Carla hat einen Baumstumpf zwischen den trockenen Grashalmen gefunden und lässt sich mit einem übertriebenen Seufzer darauf hieder. Die drei Miststücke und die beiden Titelanwärterinnen setzen sich im Halbkreis um ihre Anführerin ins Gras und holen ihre Trinkflaschen und Lunchpakete aus den Rücksäcken.

„Iiiih!“ Deli hält einen geschmolzenen Schokoriegel hoch, der in seiner Verpackung schlaff zwischen ihren Fingern hängt.

„Wie kann man bei der Hitze Schokolade mitnehmen?“ Carla verzieht das Gesicht.

Irina lässt daraufhin schnell etwas in ihrem Rucksack verschwinden. Mimi reckt den Hals, um sich nach Sassmann umzusehen. Er setzt sich gerade nicht weit von den Miststücken entfernt auf einen langen Baumstamm, der am anderen Ende bereits von ein paar Jungs belagert wird. Sein Gesicht ist knallrot und wirkt irgendwie verrutscht, als ob es in der Hitze seine Form verloren hätte.

„Ich hab Cola dabei!“

Carlas laute Stimme lässt Mimi aufschrecken. Fünf Augenpaare haben sich auf die Anführerin gerichtet, die mit vorgerecktem Kinn eine Flasche in der Hand hält. Cola! Mimi meint, den süßen, am Ende leicht bitteren Geschmack zusammen mit dem Prickeln  der Kohlensäure auf der Zunge zu spüren. Cola. Unerreichbar für jemanden, dessen Eltern der Meinung sind, dass man mit zehn für so etwas noch zu jung ist. Mimi beißt die Zähne aufeinander und öffnet ihre Brotdose. Zwei Butterbrote liegen darin, jeweils mit einer Scheibe Käse belegt, schwitzenden, wabbeligen Lappen. Mimi nimmt eines der Brote aus der Dose und beißt lustlos hinein. Das Mineralwasser aus ihrer Trinkflasche ist lauwarm. Der Gedanke, dass es Carla mit ihrer Cola genauso gehen muss, versöhnt sie ein wenig.

Die Mittagshitze flirrt über der Lichtung. Mimi schafft nur das halbe Käsebrot. Den Rest legt sie in die Dose zurück. Sie wäre gerne in den Schatten gegangen, um dort einfach nur das Ende der Rast abzuwarten, aber Carla hat andere Pläne.

„Auftragsrennen!“, verkündet sie.

Mimi unterdrückt einen Seufzer. Immerhin, den anderen Miststücken scheint es ähnlich zu gehen. Wie in Zeitlupe packen sie ihre Brotdosen ein und stehen auf.

„Deli: ein Tannenzapfen!“, kommandiert Carla. „Irina: ein Stein!“

Für jede von ihnen bestimmt sie einen Gegenstand. Mimis Auftrag ist eine Haselnuss.

Als Frau Jenne endlich zum Aufbruch ruft, ist Mimi schwindelig und ihr Magen rebelliert. Sie fühlt sich wie die Käsescheibe in ihrem Butterbrot: schwitzend und wabbelig. Carla ist unerbittlich.

„Geht’s jetzt los?“, fragt sie aufgekratzt.

Mimi nickt stumm. Sassmanns Stimme weht zu ihnen herüber: Müll aufsammeln, einpacken, zum Durchzählen zusammenkommen. Mimis Herzschlag beschleunigt sich. Ihre Mattigkeit ist mit einem Mal verflogen.

Carla hat sich abgewendet. Irina reicht der Anführerin den Rucksack an. Aus der Geste, mit der Carla ihn entgegennimmt, kann man deutlich lesen, dass sie erwartet hat, jemand würde ihn für sie tragen. Mimi schwingt sich ihren eigenen über die Schulter. Wenn sie selbst erst Anführerin ist, werden die anderen sich darum streiten, wer ihre Sachen tragen darf. Aber jetzt muss sie sich auf ihren Plan konzentrieren. Sie hält sich ein wenig abseits und wartet auf den richtigen Moment.

Frau Jenne weist einen der Jungs zurecht, der einem Mädchen Kletten in die Haare geworfen hat. Sassmann fängt an zu zählen. Er zeigt mit ausgestrecktem Finger auf jeden Schüler und bewegt dabei die Lippen, stockt, schüttelt den Kopf und beginnt von Neuem.

Mimi schiebt sich langsam rückwärts. Hinter ihr sind die Haselnusssträucher, halb überwuchert von Brombeerranken, die, wie sie von ihrem Laufauftrag weiß, mit gemeinen Dornen bewehrt sind. Sie muss vorsichtig sein, darf aber auch keine Zeit verlieren.

Als Sassmanns Finger einen neuen Zähldurchlauf startet, dreht sie sich blitzschnell um, macht einen hastigen Schritt nach rechts auf der Suche nach einer Lücke in dem dichten Gestrüpp, zwei Schritte nach links, eine Lücke ist das nicht, aber es muss reichen, und zwängt sich zwischen den Zweigen und Dornenranken hindurch, die sich nicht zur Seite schieben lassen, sondern sich ineinander verhaken, als wollten sie ihr den Weg versperren, die sich in den Stoff ihres T-Shirts krallen, ihre nackten Arme und Beine zerkratzen, aber es gibt kein Zurück mehr.

Sie hockt sich hin, kneift die Augen zu, hält die Luft an und hofft, hofft, hofft, dass niemand - nicht Sassmann, nicht Frau Jenne und auch nicht die Jungs, und am allerwenigsten eines der Miststücke - sie in diesem beschissenen Gestrüpp sieht.

„Einundzwanzig, zweiundzwanzig ...“

Jetzt zählt Sassmann laut, so laut, dass er über das Stimmengewirr der Schüler bis zu Mimi hin gut zu hören ist. Mimi verflucht sich selbst. Daran hat sie nicht gedacht. Wenn Sassmann merkt, dass jemand fehlt, dann werden sie sie suchen und finden. Sie hätte warten müssen, bis Sassmanns Finger sie erfasst hat, und dann erst verschwinden. Aber jetzt ist es zu spät.

„Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig – alle da!“

Alle da? Das ist unmöglich. Sassmann muss sich verzählt haben ... Mimi öffnet die Augen, dreht den Kopf, so weit es geht, und späht durch die Zweige in Sassmanns Richtung. Tatsächlich! Sie kann ihr Glück kaum fassen. Er winkt ungeduldig, und die ersten Schüler setzen sich in Bewegung. Mimi sieht die Zwillingspferdeschwänze wippen, und für einen Moment blitzt Carlas neongelbe Kappe auf, aber dann wird sie verdeckt von den Jungs, die sich am Ende des Zuges halbherzig hin und her schubsen, als ob sie keine richtige Lust mehr dazu hätten. Frau Jenne muss schon vorausgegangen sein, sie ist nirgends zu sehen. Und jetzt wendet sich auch Sassmann zum Gehen. Doch bevor er sich ganz umdreht, hält er inne und sieht in Mimis Richtung.

Sein Blick trifft Mimi wie ein Schwall heißen Wassers. Nein, bitte! Wenn er sie jetzt doch noch entdeckt, dann ist ihr Plan gescheitert. Aber er hat sich schon abgewandt. Trotzdem rinnt das heiße Wasser noch an Mimis Rücken hinunter, es fühlt sich an, als ob es tiefe Furchen in ihre Haut graben würde.

Sassmanns verschwitztes blaues Polohemd taucht in den Schatten des Waldes, es sieht aus, als ob er von den Schülern weggeschwemmt würde, und Sekunden später ist er nicht mehr zu sehen.

Mimi starrt dorthin, wo er verschwunden ist. Das heiße Wasser ist weg, und jetzt fühlt sie sich wie ein Ballon, der sich langsam mit Helium füllt und immer leichter wird, so leicht, dass er kühl und frei in den blauen Himmel steigt. Sie schiebt sich durch die Zweige. Zuvor haben die Dornen sie auf dem Weg in ihr Versteck aufzuhalten versucht. Jetzt wollen sie sie nicht mehr hinauslassen. Aber Mimi beißt die Zähne zusammen und kämpft sich ins Freie. Die Schrammen an ihren Armen und Beinen brennen, und noch mehr die in ihrem Gesicht. Sie lächelt grimmig. Eine Erinnerung an diesen Tag, die noch lange bleiben wird – für sie und vor allem für Carla und die Miststücke. Sie hat es geschafft. Jetzt kann nichts mehr schiefgehen. Carla wird nach ein paar Minuten Alarm schlagen. „Sassmann wird durchdrehen“, hat Carla gesagt. „Das ist der Super-GAU für ihn.“ Erst recht nach der Sache mit Philipp S.. Sassmann wird sofort zurückkommen und Mimi suchen. Um die Spannung noch ein bisschen zu erhöhen, wird sie sich eine Weile verstecken und Sassmann dabei zusehen, wie er in Panik gerät. Dafür braucht sie ein Versteck, ein besseres als das Dornengestrüpp.

Sie geht ein Stück am Rand der Lichtung entlang, dann entscheidet sie sich für den Fichtenwald. Dort ist es kühler, und im Schatten der Bäume wird sie noch schwerer zu sehen sein.

Nach dem hellen Sonnenlicht haben ihre Augen Schwierigkeiten, etwas zu erkennen. Gleißende Flecken tanzen zwischen den dunklen Baumstämmen umher. Trockene Äste knacken unter ihren Füßen. Es riecht nach Holz und Wärme, und es ist ganz still. Sie bleibt stehen und lauscht. Erst jetzt wird ihr bewusst, wie still. Kein Vogelgezwitscher, kein Wind in den Wipfeln der Fichten, nicht einmal das ferne Rauschen einer Straße. Sie hört nur ihr eigenes Ein- und Ausatmen, und als sie die Luft anhält, hört sie gar nichts mehr. Doch – ein Rascheln, wenige Schritte von ihr entfernt. Was ist das? Knistern. Wieder Stille.

Angestrengt starrt sie dorthin, wo die Geräusche hergekommen sind. Brombeerranken, Fichtenzapfen, heruntergefallene Zweige. Nichts regt sich.

Wieder ein Geräusch, weiter entfernt. Da ist etwas. Jemand, schießt es Mimi durch den Kopf. Ein Mensch. Ein Mann.

Mimi erstarrt. Ihr Herz schlägt so heftig, dass sie kaum Luft bekommt. Jetzt kann sie Schritte ausmachen, die näher kommen. Nein, sie entfernen sich. Nein. Die Schritte umkreisen sie. Sie sind hinter ihr. Ihr Körper spannt sich, und sie spürt überdeutlich den Druck der Rucksackträger, als ob sich Hände auf ihre Schultern gelegt hätten. Sie will die Hände abschütteln, aber sie kann sich nicht bewegen. Der Mann ist hinter ihr und wartet. Worauf? Will er ihre Angst auskosten, bevor ... War es so, als er Philipp S. entführt hat? Wo hat er ihn hingebracht? Was hat er mit ihm gemacht?

Vor Mimis Augen wird es dunkel. Ein Keller. Feuchter, modriger Geruch. Ein schmaler Lichtschacht, durch den fahle Dämmerung auf den Betonboden sickert. Eine schwere Tür, die sich öffnet, eine massige Gestalt: der Mann. Sein Gesicht ist eine dunkle Masse.

Das Grauen kriecht in Mimis Mund. Würmer, die sich winden, sie spürt die schleimigen Leiber auf ihrer Zunge, in ihrem Hals und muss würgen. Der Waldboden unter ihren Füßen dreht sich, hebt sich ihr entgegen, sie fällt nach vorn, auf Hände und Knie. Heftiger Schmerz pocht in ihrem Kopf. Sie meint zu ersticken. Die Würmer ausspucken. Atmen. Ein. Aus.

Sie kauert sich zusammen, macht sich ganz klein. Verstecken. Vielleicht sieht er sie nicht. Wenn es ihr gelingt, mit dem Waldboden zu verschmelzen, wie ein kleines Tier, das sich eingräbt, kaum noch atmet, kaum noch lebt. Nichts mehr spürt, keine Angst, keine Reue, nichts.

„Mimi!“ Die Stimme, die ihren Namen ruft, lässt sie zusammenfahren. Jetzt sind wieder Schritte zu hören, die rasch näherkommen.

„Steh auf!“

Eine harte Hand packt sie, reißt sie hoch. Sie taumelt. Ihre Knie zittern. Die Hand lässt sie los.

Sassmann dreht sie zu sich um. Er ist viel größer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Sie reicht ihm gerade so bis zur Brust. Er tritt einen Schritt zurück. Mimi schaut nicht auf, aber sie spürt, dass er auf sie herabsieht.

Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und geht auf die helle Lichtung zu. Mimi stolpert hinter ihm her.
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Grill / Re: (KG) Pietà
« Letzter Beitrag von nus am 03 October 2022, 14:04:49 »
@CheFFin:
OK, verstehe. Das greife ich auf.
 :-*
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Grill / Re: (KG) Pietà
« Letzter Beitrag von FF am 02 October 2022, 22:07:58 »
Ja, auf der Ebene kann ich es dann auch verstehen. Ohne Melissa liegt der Fokus auf der Beziehung zwischen Mann und Hund, ich würde mir dann nur ein bisschen mehr Klarheit in bezug auf die Verletzung wünschen.

Auf jeden Fall danke fürs Einstellen!
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Grill / Re: (KG) Pietà
« Letzter Beitrag von nus am 02 October 2022, 17:23:54 »
Liebe CheFFin, lieber Uli, lieber Quisi!

Wenn ich Jedem einzeln antworte, schreibe ich mehr oder weniger dreimal das Gleiche, daher hier eine Rückmeldung für Euch drei.
Zuallererst Danke für Eure ausführlichen Feedbacks. Jedes davon hilft mir ein großes Stück weiter (konkret dazu weiter unten)!

Zu dieser Kurzgeschichte ein paar Hintergrundinformationen:

1.
In der letzten Zeit habe ich mich intensiv mit Kunst beschäftigt. Damit, was sie will und kann. Ein "Outcome" daraus ist, dass ich mit dem war ich im Moment schreibe, nicht mehr so viele Leute wie möglich erreichen will. Es wird Leser geben, die sich von meinen Texten angesprochen fühlen, die spüren, dass da etwas für sie drinsteckt, die vielleicht sogar die tieferen Bedeutungsebenen verstehen. Aber es wird auch Leser geben, die meine Texte ratlos zurücklassen.
Trotzdem versuche ich natürlich, das, was mir wichtig ist, deutlich zu machen (und dafür sind Eure Anmerkungen sehr gut, aber dazu weiter unten). Aber nicht (mehr) um jeden Preis. In dem, was ich im Moment schreibe, steckt sehr viel drin, und ich verlange meinem Leser auch etwas ab. Meine Texte sind - wenn überhaupt - nur dann zu verstehen, wenn ein Leser erstens spürt, dass etwas für ihn drinsteckt (s.o.), und wenn er sich zweitens intensiver mit ihnen beschäftigt. Mit "mit ihnen beschäftigen" meine ich nicht, dass man jede einzelne Szene genau anschaut und analysiert, sondern dass man den Text liest, ihn sacken lässt und im Nachgang (immer mal wieder) darüber nachdenkt.
Meine besten Erlebnisse mit der Kunst waren die, in denen ich mich zum Beispiel von einem Bild angesprochen fühlte und mir im späteren Nachdenken darüber plötzlich ein Licht aufging. Dieser Moment der Erkenntnis ist wirklich toll, und er kann sich nicht einstellen, wenn der Künstler die Aussage ganz plakativ darstellt. Darum will ich in den Texten, die ich im Moment schreibe, auch nicht alles expressis verbis beschreiben. Manches wird nur angedeutet, und entweder ein Leser erkennt das und versteht das oder nicht.

Wie gesagt, das heißt NICHT, dass ich mich im Vagen verlieren will wie jemand, der nicht malen kann und nur abstrakten Mist abliefert mit einem Achselzucken: Wer's nicht versteht, ist selbst schuld.

2.
Ich bin im Moment ein wenig vom reinen Geschichtenerzählen um des Geschichtenerzählens willen (was ich lange Zeit sehr gerne gemacht habe) abgekommen. Stattdessen schreibe ich zu Themen, die mich sehr persönlich beschäftigen. In dieser Geschichte geht es um das Thema Schuld. Es geht um das Gefühl, das wir haben, wenn wir jemandem, den wir lieben, etwas angetan haben, ihn verletzt haben. Sich schuldig fühlen ist ambivalent: Einerseits wollen wir das, was wir dem geliebten Wesen angetan haben, wieder gutmachen. Und wenn das de facto nicht geht, dann mit Liebe (dieser Teil ist sehr schwer auszudrücken). Andererseits wollen wir die Schuld von uns weisen, sie uns vom Hals schaffen.

Jetzt konkret zu der Geschichte:

Martys Anwesenheit (der Hund ist ja ständig in unmittelbarer Nähe) führt Gabor seine Schuld immer wieder vor Augen, und er wird zwischen diesen beiden Reaktionen (mit Liebe die Schuld wieder gutmachen und sie sich vom Hals schaffen) permanent hin und her geworfen. Die Schuld mit Liebe wieder gutmachen funktioniert aber nicht. Und da seine Schuld untrennbar mit Marty verbunden ist (die Pfote ist ja dauerhaft verkrüppelt), kann er sie sich nur vom Hals schaffen, indem er sich Marty vom Hals schafft. Das funktioniert aber auch nicht.
Es gibt also für Gabor keinen Exit, der in seiner eigenen Macht steht.

Es gibt nur einen Exit, der außerhalb seiner Handlungsmöglichkeiten liegt. Und hier gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten:
1. Die Vergebung durch den, den wir verletzt haben.
2. Die Vergebung auf spiritueller Ebene.

Die erste Möglichkeit funktioniert nicht ohne die zweite. Denn es geht nicht nur darum, dass der, den wir verletzt haben, uns verzeiht. Es geht auch darum - und das ist vielleicht noch wichtiger - dass wir selbst uns verzeihen.

Was die spirituelle Ebene angeht, verwende ich das Motiv der Pietá. Dieses Motiv ist ungemein vielschichtig. Ich will das jetzt nicht in allen Details aufblättern, nur zwei Aspekte (und nur ganz knapp) skizzieren:
1. Mitleid
Gabor widerfährt die gleiche Verletzung wie Marty. Er leidet also im wahrsten Wortsinn mit.
2. Vergebung
Im christlichen Verständnis hat Jesus die Schuld der Menschen auf sich genommen, und durch seinen Tod verschwindet diese Schuld (sie wird "getilgt", was soviel wie "ausradiert", "gelöscht" bedeutet). Und dies geht sogar so weit: Jesus wird von Menschen getötet, und zugleich tilgt er mit seinem Tod die Schuld der Menschen. So ist es auch hier: Marty wird von Gabor verletzt, und zugleich führt sein Tod dazu, dass er verschwindet, dass Gabor ihn also "loswird" (siehe oben).

Dazu wäre eigentlich noch viel mehr (und viel Ausführlicheres) zu sagen (etwa die Dopplung/Spiegelung des Pietá-Motivs mit dem Madonnen-Motiv), aber das würde hier den Rahmen sprengen. Für mich persönlich ist dieses Motiv sehr, sehr berührend und tröstlich.

Und nun zu Euren Anmerkungen und dem, was ich selbst daraus ziehen kann:
1. Erbsen (klar, die lass ich nicht liegen)
2. Ich werde den Hund umbenennen. Der jetzige Name lenkt vom eigentlich Wichtigen ab.
3. Ich werde die Handlungsteile mit Melissa herausnehmen. Es geht mir allein um Gabor und Marty. Melissa spielt im Grunde gar keine Rolle.
4. Ich werde Gabor "schuldiger" machen, damit man Marty Verletzung nicht als Unfall versteht.
5. Vielleicht arbeite ich noch mehr Aspekte des Pietá-Motivs ein.

Noch mal danke an Euch!
:) nus



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Grill / Re: (KG) Pietà
« Letzter Beitrag von Quisille am 30 September 2022, 15:37:41 »
Moin!

Den Text strukturell zu rösten, scheint mir nicht angemessen, da er sich in den Sphären der Bedeutungsebene vor meiner Haarspalterei versteckt.

Pfui! Komm raus, Text, und kämpfe wie ein kleines pelziges Wesen von Alpha Centauri, wenn du dich traust! :grinwech:

Also gut, schön, Bedeutungsebene und Interpretation. Aber erst einmal Erbsenlese:

"Marty McFly" ist ein heutzutage vermutlich ziemlich obskures Zitat. Die Verbindung zur Erzählung ist mir nicht klar. Zwar ist die Erzählstruktur teilweise nichtlinear, aber der Bezug zu Zeitreisen wirft mich eher raus.

Zitat
Gabor hebt den Kopf und sieht die Verschlagenheit im Blick des Hundes, die stumme Anklage.

Erschließt sich mir nicht. Ist das Gabors Sicht auf Marty? Warum empfindet Gabor die Anklage des Hundes als "Verschlagenheit"? Der Hund hat ihn doch über seine Schmerzen nie getäuscht oder ein verborgenes Ziel damit verfolgt. Selbst wenn Gabor Melissa oder gar sich selbst auf Marty projiziert, so haben sich doch weder Melissa noch Gabor erkennbar verschlagen verhalten. Außerdem zieht die Symbolsprache des Texts eine Parallele zwischen Marty und Gabor. Wirft sich Gabor selbst Verschlagenheit vor? Aber warum?

Zitat
Gabor schreckt vor der Wärme des kleinen Körpers unter dem Couchtisch zurück. Der Hund hebt den Kopf und sieht ihn an.
“Es war nicht meine Schuld!”
Gabors Stimme klingt schrill, die Stimme eines Lügners.

Erschließt sich mir auch nicht. Es war nicht Gabors Schuld, es war ein Unfall. Projiziert er die Trennung von Melissa auf die Situation? Hat er Melissa wehgetan und rechtfertigt sich jetzt vor dem Hund, vielleicht ohne es zu wissen? Aber die Parallele zwischen Melissa und Marty funktioniert nicht, dazu ist die Parallele zwischen Gabor und Marty zu stark. Sieht sich Gabor jetzt also Marty gegenüber in der Position von Melissa ihmgegenüber? Weil er Marty auf die Terrasse abgeschoben hat? Wenn das aber so ist, und sich Gabor deswegen schuldig fühlt, warum will er Marty dann aussetzen? Bei den vielen Projektionen verliere ich außerdem etwas den Überblick: Gabor projiziert sich auf Marty und Melissa auf sich selbst, später dann Marty auf sich und Melissa auf sein früheres Ich, indem er sich von ihr die Terrassentür auf die Pfote semmeln lässt?

Zitat
Pietà

Ich weiß nicht, ob wir da dieselbe Assoziation haben. Aber bei dem, was sich mir aufdrängt, fällt es mir schwer, die Symbolsprache auf ein konsistentes Bild zu bringen. Was zweifellos passt, ist das Gefühl tiefer Trauer, das ich Gabor durchaus abnehme. Damit hören die Parallelen aber auch schon auf. Marty zeigt keinerlei Opferwillen, sein Tod ist für niemanden mit der Hoffnung auf Besserung verbunden, Gabor sieht sich in der Rolle des Schuldigen, durch Martys Tod wird seine Schuld aber nicht stellvertretend gesühnt. Wenn man sehr weit ausholt, könnte man Gabor in einer Art Mutterrolle für Marty sehen, aber auch da wird es inkonsistent, da die Bildsprache der Pietà Maria in der Rolle unverschuldeten Leidens sieht, Gabor aber sich selbst die Schuld gibt und außerdem seine Schuld dann auch prompt selbst symbolgeladen abbüßt, indem er sich von Melissa mittelbar die Hand einklemmen lässt.

Als Inspiration ist der Bezug zur Pietà durchaus legitim, aber interpretatorisch führt er mich eher auf Irrwege.

Genug der Erbsen, hin zur Interpretation. Sowas mache ich normalerweise nicht, auf Interpretationsebene zu rösten, aber siehe oben, es geht nicht anders. Also bitte damit rechnen, dass hier sehr viel Subjektives zur Sprache kommt.

Was mir erhebliche Probleme bereitet, ist Gabors Motivation. (In den Erbsen klingt es bereits an.) Der Kern der Erzählung besteht darin, dass Gabor seinen Hund aussetzen will, aber dann doch wieder eigentlich nicht. Das deutet auf einen inneren Konflikt hin. Worin besteht der aber genau? Gabor wirkt relativ statisch. Sein Verhalten ändert sich zwar (erst setzt er den Hund aus, dann holt er desse erfrorenen Körper wieder zurück), aber die Änderung des Verhaltens scheint sich mir nicht aus einem erkennbaren Dilemma und dessen Auflösung abzuleiten.

Was will Gabor? Will er, dass Melissa zurückkommt? Warum sollte Marty da ein Hindernis sein? Will er das Trauma der Trennung überwinden? Warum muss er dafür Marty aussetzen? Die Parallele zwischen Marty und Gabor wird ja sehr stark betont. Gibt es eventuell gar keinen Marty? Ist das eine Phantasie, in der Gabor seinen Opferstatus auslebt? Wenn dem so ist, und ganz gleich, ob es Marty wirklich gibt oder er nur ein Phantasiekonstrukt ist: Was lernen wir daraus über Gabor? Will er sein eigenes Schuldgefühl dem Hund gegenüber durch die Phantasie auf Melissa zurückprojizieren? Wird er vielleicht überhaupt nur deshalb schuldig, weil er die Schuld für die Rückprojektion braucht?

Was ist die Aussage des Texts? Melissa ist schuld, dass der Hund tot ist, weil sie Gabor verlassen hat, obwohl der das nicht wollte? Gefährliches Terrain. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich Dir bei einer derartigen These würde folgen wollen. Melissa hat die Beziehung mit Gabor beendet, offenbar weil sie sich von ihm zu sehr bedrängt fühlte. Ihr jetzt die Schuld zuzuweisen an Gabors Instabilität, scheint zumindest fragwürdig. Aber diese Interpretation liegt sehr nahe, denn die Parallelen (Verletzung durch Zurückweisung) sind zwischen Marty und Gabor unverkennbar, und der Erfrierungstod beider in Verbindung mit dem Terrassentürmotiv macht Melissa symbolisch betrachtet zu Gabors Mörderin.

*schluck* :glotz:

Ich bin jetzt wirklich nicht so der Vorzeigefeminist, aber damit hätte sogar ich Probleme. Wenn ich verlassen werde, gibt mir das nicht das Recht zu erfrieren, um es meiner Ex mal so richtig zu zeigen.

Erzählstrategisch bündelt sich dieses Problem an einem einzigen Dreh- und Angepunkt: Gabors Motivation, Marty auszusetzen. Warum will (oder besser: MUSS) er das tun? Ohne weiteren Kommentar wirkt es wie militantes Selbstmitleid und legt die oben skizzierte Interpretation nahe. Wenn ich mit dieser Interpretation danebenliege (wie ich hoffe), bräuchte der Punkt noch etwas Klarstellung.

That being said ...

Sprachlich-stilistisch ist der Text ein Genuss. Tempo, Rhythmus, Staffelung, auch das interessante Spiel mit der nichtlinearen Erzählweise machen das Leseerlebnis kurzweilig, ohne dabei flach zu wirken. Satzstruktur und -komplexität folgen dem Tempo und der emotionalen Färbung der jeweiligen Passage. Hat mir ausnehmend gut gefallen. :cheerful: Emotional ist der Text sehr eindrücklich. Gekonnt!

Liebe Grüße, und vielen Dank für das Röstfutter! :dops:

Quisille
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Grill / Re: (KG) Pietà
« Letzter Beitrag von Uli am 29 September 2022, 22:58:50 »


nach der Gedächtnis-Auffrischung durch Tante Google: (wg Pietá)

Ähm. Offenbar habe ich etwas wichtiges nicht verstanden. Sorry.
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Grill / Re: (KG) Pietà
« Letzter Beitrag von Uli am 29 September 2022, 20:54:04 »
ob das alte Ding noch funktioniert? (Röstgabel anstarr) Nun, Versuch macht kluch …

Ay Nus!

Schön, hier mal wieder einen Text zu sehen - und dazu noch eine Kurzgeschichte! Freu!

Vorab die Erbse: Du neigst dazu, den Namen des Protagonisten einen Tick zu oft zu nennen - bei zwei aufeinanderfolgenden Sätzen könnte der zweite ein ˋer´ sein. Sonst war mir beim ersten Lesen nichts aufgefallen, was für die Geschichte spricht.

Also: Gut zu lesen, wenn auch ein wenig … nun, düster? Deprimiert …

Mal sehen ob ich das richtig verstanden habe:

Gabor hatte eine Beziehung, aus der mehr werden sollte (Heirat angedacht, wahrscheinlich), und die Dame hat ihn abserviert. Umgangssprachlich ˋvor die Tür gesetzt ´.
Er hatte eine enge Bindung an der Hund, wahrscheinlich ein ˋgroßer Junge ´, dieser Gabor - dafür spricht der Name des Tiers.
Aber: Als er telefonisch vor die Tür gesetzt wird, macht er das real mit Marty - der dabei zufällig verletzt wird (Rechte Pfote? So wie Marty bei dem Unfall mit dem Rolls Royce? Kann er ihn deshalb nicht mehr beim Namen nennen?)

Jedenfalls rennt Gabor erstmal weg, bevor er sich um den Hund kümmert.

Einige Zeit später hält er das Schuldgefühl (nur wegen des Unfalls?) nicht mehr aus und will Marty wegschaffen: Aussetzen an einer Raststelle, mitten im Winter … doofe Idee, irgendwie, aber ein wenig nachvollziehbar: Die Chance auf ein besseres Leben durch die kleine Chance, von dem (der!) Richtigen gefunden zu werden.

Bei der Aktion erfriert der Hund, und Gabor stürzt völlig ab: Mittelschwer betrunken auf der kalten Terrasse wartet er … worauf?
Ob seine Ex real auftaucht oder das nur ein Traumbild ist, ist wahrscheinlich belanglos - wichtig nir, dass er sich beim Versuch, wieder in die Wohnung zu gelangen, die gleiche Verletzung einfängt wie vorher der Hund - und dann, eben wie dieser, erfriert.

Ok?
Wenn ja: Dann fehlt mir irgendwo … etwas.
Sagen wir mal: Die verpasste Abzweigung. Der Moment, an dem er sich falsch entschieden hat. Vielleicht sogar ein Konflikt zwischen der großen Liebe und dem ˋgroßen Jungen ´, der (Spekulation!) an seinem Hund festgemacht ist?
Kurz: Mir fehlt (oder ich sehe es nicht) ein ˋweil ´ …

Hoffe, das hilft!
cheers, Uli
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Grill / Re: (KG) Pietà
« Letzter Beitrag von nus am 29 September 2022, 17:39:19 »
Danke, CheFFin, für Dein Feedback (auch wenn es natürlich blöd ist, dass bei Dir nur Fragezeichen ankommen)!
Ich warte mal noch mit Erklärungen. Vielleicht mag ja noch jemand anderes etwas schreiben.
Nur zwei Anmerkungen jetzt schon:
1. Google mal, was eine Pietà ist.
2. Ursprünglich hieß die Geschichte "Schuld", denn genau darum geht es.
 :-* nus
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