Neueste Beiträge

Seiten: 1 [2] 3 4 ... 10
11
Grill / (KG) Wandertag
« Letzter Beitrag von nus am 11 January 2023, 17:08:58 »
Hallo liebe, Teufels!
Ich habe etwas Neues für den Grill. Vielleicht erinnert sich der/die Eine oder Andere an eine alte Version, die ich nicht überarbeitet, sondern komplett neu geschrieben habe.
Mir geht es - wie schon bei Pietà - nicht darum, ob die Geschichte "funktioniert". "Funktionieren" bedeutet ja, dass etwas, das der Autor ausdrücken will, auch tatsächlich beim Leser ankommt. Mir geht es darum, ob Euch die Geschichte anspricht. Wenn nicht - dann nicht. Wenn ja - dann würde mich interessieren, was Ihr darin/daran findet.
Es sind aber auch alle anderen Anmerkungen willkommen!
Danke für Euer Feedback!
 :-* nus

Wandertag

Verdammtes Miststück - die höchste Auszeichnung. Außer Mimi dürfen sich bislang nur Irina und Deli Verdammte Miststücke nennen. Es gibt noch zwei Anwärterinnen auf diesen Titel in der Klasse: die Milberg-Zwillinge. Aber ob sie es jemals schaffen werden, ist nicht sicher. Die pechschwarzen Pferdeschwänze der beiden wippen direkt vor Mimi im Takt ihres Gleichschritts. Die Zwillinge machen alles zusammen. Wenn sie es überhaupt schaffen, dann müssen sie sich wahrscheinlich einen Titel teilen.

Mimi drückt den Rücken durch. Heute wird sie beweisen, dass sie Carlas Gunst verdient hat. Vielleicht sogar mehr als das. Mit ihrem Plan hat sie Carla beeindruckt. Wenn sie ihn jetzt in die Tat umsetzt, dann wird sie nicht nur die Anführerin, sondern alle beeindrucken.

Sassmann ist am Morgen mit ihnen losmarschiert, und außer dem ständig verheulten Timmi, der angeblich Fieber hat – mitten im Sommer! – ist die ganze Klasse angetreten. Die Sonne brennt, während sie über den langen, schnurgeraden Feldweg marschieren, und Sassmanns Glatze glänzt wie poliert.

Carla hat sich heute die neongelbe Basecap von ihrem großen Bruder ausgeliehen. Mimi könnte sterben vor Neid, nicht nur wegen der Kappe, sondern noch mehr, weil sie auch gern einen großen Bruder hätte. Aber daran will sie jetzt nicht denken. Carla stößt sie mit dem Ellbogen in die Seite, und sie lachen sich tot über Sassmanns plattfüßigen Gang und über die Faxen der Jungs. Mimi sieht zu den anderen Verdammten Miststücken hinüber und registriert mit Genugtuung deren Blicke. Sie, Mimi, ist heute schon seit dem frühen Morgen an Carlas Seite, und wenn ihr Plan aufgeht, wird das auch weiterhin so bleiben.


Endlich kommt der Wald in Sicht und damit die Hoffnung auf ein bisschen Abkühlung. Carla hält Mimi am Arm fest.

„Wann?“, flüstert sie.

„Nach der Mittagsrast“, flüstert Mimi zurück.

Im Wald ist es kühler. Sassmann tupft seine Glatze mit einem Stofftaschtuch ab. Nachdem er das schon unzählige Male getan hat, muss das Taschentuch klamm sein von seinem Schweiß. Mimi sieht zu Carla und schneidet eine Grimasse. Hinter ihr ist die Stimme von Frau Jenne zu hören.

„Luca, David, hört auf mit der Rangelei, Deli, gib Rebekka ihre Trinkflasche zurück, Irina, lass das ...“

Die Ermahnungen sind eine endlose, monotone Begleitmelodie, mit dem immer gleichen Refrain: „Bleibt zusammen!“

Die Lehrer sind nervös. Mimi weiß, warum. Wegen Philipp S., zehn Jahre alt, genau wie Mimi. Sein Name ist seit Wochen in den Nachrichten. Ein Mann hat ihn entführt, und dann ... An diesem Punkt schalten Mimis Eltern das Radio oder den Fernseher auf einen anderen Sender. Auf dem Foto, das sie in den Nachrichten gezeigt haben, sieht er ein bisschen aus wie Timmi. „Was interessiert uns so eine Heulsuse?“, hatte Carla gesagt. Nur Heulsusen werden entführt. An ein verdammtes Miststück traut sich niemand ran. Als die Meldung kam, dass Philipp S. gefunden wurde, tot, hat Carla nichts mehr dazu gesagt.

Mimis Beine fühlen sich schwer an. Im Schatten der Fichten tanzen Sonnenflecken auf dem Weg. Carla hebt einen Fichtenzapfen auf und zielt damit auf Sassmanns roten Nacken, verfehlt ihn aber. Die Miststücke kichern. Mimi lächelt in sich hinein. Das war nichts. Sie hat den Verdacht, dass der Versuch, Sassmann zu treffen, gar nicht so ernsthaft war. Das, was sie vorhat, ist dagegen wirklich ernsthaft. Carla mag einen großen Bruder haben, den alle bewundern und vor dem sie vielleicht sogar ein wenig Angst haben, aber wenn Mimis Plan aufgeht, wird sie aus Carlas Schatten hervortreten und nicht länger eins von den Miststücken sein, sondern jemand, der sich Titel für die anderen ausdenkt.

Carla geht schneller, lässt Mimi hinter sich und zwängt sich zwischen die Zwillinge. Sofort wenden die beiden sich ihr zu, und der schwesterliche Gleichschritt kommt aus dem Rhythmus. Mimi kann nicht verstehen, was Carla sagt, aber das aufgeregte Wischen der Zwillingspferdeschwänze deutet auf einen neuen Auftrag hin. Tatsächlich steckt Carla ihnen etwas zu und lässt sich wieder zurückfallen.

„Das wird lustig“, raunt sie Mimi zu.

Irina und Deli schließen zu ihnen auf.

„Mimi hat was vor“, informiert Carla sie.

„Was?“ Deli reißt gierig die Augen auf. „Erzähl!“

„Ihr werdet’s sehen“, gibt Mimi zurück und wechselt einen schnellen Blick mit Carla.

„Komm schon“, drängt Irina. „Ein Stichwort.“

„Verstecken“, sagt Mimi.

Delis Augen werden noch größer.

„Verstecken?“ Irina klingt enttäuscht. Und erleichtert.

Die Zwillinge vor ihnen drehen sich um und lassen fast synchron zwei große pinkfarbene Bubblegum-Blasen platzen. Carla macht eine ungeduldige Geste in ihre Richtung. Die beiden beschleunigen ihren Schritt und drängen sich rechts und links an Sassmann vorbei. Zwei pinkfarbene Andenken bleiben an seinem Rücksack zurück. Eines davon fällt bereits nach wenigen Sekunden auf den Weg. Mimi macht einen großen Schritt, um nicht daraufzutreten. Das zweite tropft ins trockene Gras, als sie die Lichtung erreichen und Sassmann den Rucksack absetzt. Mimi sieht zu den Zwillingen, die betrübt die Stirn runzeln. Den Titel können sie sich in die Haare schmieren.

Frau Jenne stellt sich an Sassmanns Seite und erklärt, dass alle ab jetzt zwei Stunden Zeit haben zum Picknicken, Ausruhen, Herumlaufen. „Auf jeden Fall in Sichtweite bleiben, und das heißt: maximal zehn Schritte von der Lichtung in den Wald. Zehn Schritte!“

Mimi sieht sich verstohlen um. Die Lichtung grenzt zur einen Seite an den Fichtenwald. Auf der anderen Seite drängt sich dichtes Gebüsch heran, Brombeergestrüpp, Haselnusssträucher. Dahinter beginnt ein aufgelockerter Wald aus Nadel- und Laubbäumen. Die Bedingungen für ihr Vorhaben können nicht besser sein.

Die Lichtung selbst ist mit hohem, trockenem Gras bewachsen, über dem Insekten schwirren. Drückende Hitze liegt darüber, und Mimi hätte sich gern einen Platz im Schatten gesucht, aber Carla hat einen Baumstumpf zwischen den trockenen Grashalmen gefunden und lässt sich mit einem übertriebenen Seufzer darauf hieder. Die drei Miststücke und die beiden Titelanwärterinnen setzen sich im Halbkreis um ihre Anführerin ins Gras und holen ihre Trinkflaschen und Lunchpakete aus den Rücksäcken.

„Iiiih!“ Deli hält einen geschmolzenen Schokoriegel hoch, der in seiner Verpackung schlaff zwischen ihren Fingern hängt.

„Wie kann man bei der Hitze Schokolade mitnehmen?“ Carla verzieht das Gesicht.

Irina lässt daraufhin schnell etwas in ihrem Rucksack verschwinden. Mimi reckt den Hals, um sich nach Sassmann umzusehen. Er setzt sich gerade nicht weit von den Miststücken entfernt auf einen langen Baumstamm, der am anderen Ende bereits von ein paar Jungs belagert wird. Sein Gesicht ist knallrot und wirkt irgendwie verrutscht, als ob es in der Hitze seine Form verloren hätte.

„Ich hab Cola dabei!“

Carlas laute Stimme lässt Mimi aufschrecken. Fünf Augenpaare haben sich auf die Anführerin gerichtet, die mit vorgerecktem Kinn eine Flasche in der Hand hält. Cola! Mimi meint, den süßen, am Ende leicht bitteren Geschmack zusammen mit dem Prickeln  der Kohlensäure auf der Zunge zu spüren. Cola. Unerreichbar für jemanden, dessen Eltern der Meinung sind, dass man mit zehn für so etwas noch zu jung ist. Mimi beißt die Zähne aufeinander und öffnet ihre Brotdose. Zwei Butterbrote liegen darin, jeweils mit einer Scheibe Käse belegt, schwitzenden, wabbeligen Lappen. Mimi nimmt eines der Brote aus der Dose und beißt lustlos hinein. Das Mineralwasser aus ihrer Trinkflasche ist lauwarm. Der Gedanke, dass es Carla mit ihrer Cola genauso gehen muss, versöhnt sie ein wenig.

Die Mittagshitze flirrt über der Lichtung. Mimi schafft nur das halbe Käsebrot. Den Rest legt sie in die Dose zurück. Sie wäre gerne in den Schatten gegangen, um dort einfach nur das Ende der Rast abzuwarten, aber Carla hat andere Pläne.

„Auftragsrennen!“, verkündet sie.

Mimi unterdrückt einen Seufzer. Immerhin, den anderen Miststücken scheint es ähnlich zu gehen. Wie in Zeitlupe packen sie ihre Brotdosen ein und stehen auf.

„Deli: ein Tannenzapfen!“, kommandiert Carla. „Irina: ein Stein!“

Für jede von ihnen bestimmt sie einen Gegenstand. Mimis Auftrag ist eine Haselnuss.

Als Frau Jenne endlich zum Aufbruch ruft, ist Mimi schwindelig und ihr Magen rebelliert. Sie fühlt sich wie die Käsescheibe in ihrem Butterbrot: schwitzend und wabbelig. Carla ist unerbittlich.

„Geht’s jetzt los?“, fragt sie aufgekratzt.

Mimi nickt stumm. Sassmanns Stimme weht zu ihnen herüber: Müll aufsammeln, einpacken, zum Durchzählen zusammenkommen. Mimis Herzschlag beschleunigt sich. Ihre Mattigkeit ist mit einem Mal verflogen.

Carla hat sich abgewendet. Irina reicht der Anführerin den Rucksack an. Aus der Geste, mit der Carla ihn entgegennimmt, kann man deutlich lesen, dass sie erwartet hat, jemand würde ihn für sie tragen. Mimi schwingt sich ihren eigenen über die Schulter. Wenn sie selbst erst Anführerin ist, werden die anderen sich darum streiten, wer ihre Sachen tragen darf. Aber jetzt muss sie sich auf ihren Plan konzentrieren. Sie hält sich ein wenig abseits und wartet auf den richtigen Moment.

Frau Jenne weist einen der Jungs zurecht, der einem Mädchen Kletten in die Haare geworfen hat. Sassmann fängt an zu zählen. Er zeigt mit ausgestrecktem Finger auf jeden Schüler und bewegt dabei die Lippen, stockt, schüttelt den Kopf und beginnt von Neuem.

Mimi schiebt sich langsam rückwärts. Hinter ihr sind die Haselnusssträucher, halb überwuchert von Brombeerranken, die, wie sie von ihrem Laufauftrag weiß, mit gemeinen Dornen bewehrt sind. Sie muss vorsichtig sein, darf aber auch keine Zeit verlieren.

Als Sassmanns Finger einen neuen Zähldurchlauf startet, dreht sie sich blitzschnell um, macht einen hastigen Schritt nach rechts auf der Suche nach einer Lücke in dem dichten Gestrüpp, zwei Schritte nach links, eine Lücke ist das nicht, aber es muss reichen, und zwängt sich zwischen den Zweigen und Dornenranken hindurch, die sich nicht zur Seite schieben lassen, sondern sich ineinander verhaken, als wollten sie ihr den Weg versperren, die sich in den Stoff ihres T-Shirts krallen, ihre nackten Arme und Beine zerkratzen, aber es gibt kein Zurück mehr.

Sie hockt sich hin, kneift die Augen zu, hält die Luft an und hofft, hofft, hofft, dass niemand - nicht Sassmann, nicht Frau Jenne und auch nicht die Jungs, und am allerwenigsten eines der Miststücke - sie in diesem beschissenen Gestrüpp sieht.

„Einundzwanzig, zweiundzwanzig ...“

Jetzt zählt Sassmann laut, so laut, dass er über das Stimmengewirr der Schüler bis zu Mimi hin gut zu hören ist. Mimi verflucht sich selbst. Daran hat sie nicht gedacht. Wenn Sassmann merkt, dass jemand fehlt, dann werden sie sie suchen und finden. Sie hätte warten müssen, bis Sassmanns Finger sie erfasst hat, und dann erst verschwinden. Aber jetzt ist es zu spät.

„Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig – alle da!“

Alle da? Das ist unmöglich. Sassmann muss sich verzählt haben ... Mimi öffnet die Augen, dreht den Kopf, so weit es geht, und späht durch die Zweige in Sassmanns Richtung. Tatsächlich! Sie kann ihr Glück kaum fassen. Er winkt ungeduldig, und die ersten Schüler setzen sich in Bewegung. Mimi sieht die Zwillingspferdeschwänze wippen, und für einen Moment blitzt Carlas neongelbe Kappe auf, aber dann wird sie verdeckt von den Jungs, die sich am Ende des Zuges halbherzig hin und her schubsen, als ob sie keine richtige Lust mehr dazu hätten. Frau Jenne muss schon vorausgegangen sein, sie ist nirgends zu sehen. Und jetzt wendet sich auch Sassmann zum Gehen. Doch bevor er sich ganz umdreht, hält er inne und sieht in Mimis Richtung.

Sein Blick trifft Mimi wie ein Schwall heißen Wassers. Nein, bitte! Wenn er sie jetzt doch noch entdeckt, dann ist ihr Plan gescheitert. Aber er hat sich schon abgewandt. Trotzdem rinnt das heiße Wasser noch an Mimis Rücken hinunter, es fühlt sich an, als ob es tiefe Furchen in ihre Haut graben würde.

Sassmanns verschwitztes blaues Polohemd taucht in den Schatten des Waldes, es sieht aus, als ob er von den Schülern weggeschwemmt würde, und Sekunden später ist er nicht mehr zu sehen.

Mimi starrt dorthin, wo er verschwunden ist. Das heiße Wasser ist weg, und jetzt fühlt sie sich wie ein Ballon, der sich langsam mit Helium füllt und immer leichter wird, so leicht, dass er kühl und frei in den blauen Himmel steigt. Sie schiebt sich durch die Zweige. Zuvor haben die Dornen sie auf dem Weg in ihr Versteck aufzuhalten versucht. Jetzt wollen sie sie nicht mehr hinauslassen. Aber Mimi beißt die Zähne zusammen und kämpft sich ins Freie. Die Schrammen an ihren Armen und Beinen brennen, und noch mehr die in ihrem Gesicht. Sie lächelt grimmig. Eine Erinnerung an diesen Tag, die noch lange bleiben wird – für sie und vor allem für Carla und die Miststücke. Sie hat es geschafft. Jetzt kann nichts mehr schiefgehen. Carla wird nach ein paar Minuten Alarm schlagen. „Sassmann wird durchdrehen“, hat Carla gesagt. „Das ist der Super-GAU für ihn.“ Erst recht nach der Sache mit Philipp S.. Sassmann wird sofort zurückkommen und Mimi suchen. Um die Spannung noch ein bisschen zu erhöhen, wird sie sich eine Weile verstecken und Sassmann dabei zusehen, wie er in Panik gerät. Dafür braucht sie ein Versteck, ein besseres als das Dornengestrüpp.

Sie geht ein Stück am Rand der Lichtung entlang, dann entscheidet sie sich für den Fichtenwald. Dort ist es kühler, und im Schatten der Bäume wird sie noch schwerer zu sehen sein.

Nach dem hellen Sonnenlicht haben ihre Augen Schwierigkeiten, etwas zu erkennen. Gleißende Flecken tanzen zwischen den dunklen Baumstämmen umher. Trockene Äste knacken unter ihren Füßen. Es riecht nach Holz und Wärme, und es ist ganz still. Sie bleibt stehen und lauscht. Erst jetzt wird ihr bewusst, wie still. Kein Vogelgezwitscher, kein Wind in den Wipfeln der Fichten, nicht einmal das ferne Rauschen einer Straße. Sie hört nur ihr eigenes Ein- und Ausatmen, und als sie die Luft anhält, hört sie gar nichts mehr. Doch – ein Rascheln, wenige Schritte von ihr entfernt. Was ist das? Knistern. Wieder Stille.

Angestrengt starrt sie dorthin, wo die Geräusche hergekommen sind. Brombeerranken, Fichtenzapfen, heruntergefallene Zweige. Nichts regt sich.

Wieder ein Geräusch, weiter entfernt. Da ist etwas. Jemand, schießt es Mimi durch den Kopf. Ein Mensch. Ein Mann.

Mimi erstarrt. Ihr Herz schlägt so heftig, dass sie kaum Luft bekommt. Jetzt kann sie Schritte ausmachen, die näher kommen. Nein, sie entfernen sich. Nein. Die Schritte umkreisen sie. Sie sind hinter ihr. Ihr Körper spannt sich, und sie spürt überdeutlich den Druck der Rucksackträger, als ob sich Hände auf ihre Schultern gelegt hätten. Sie will die Hände abschütteln, aber sie kann sich nicht bewegen. Der Mann ist hinter ihr und wartet. Worauf? Will er ihre Angst auskosten, bevor ... War es so, als er Philipp S. entführt hat? Wo hat er ihn hingebracht? Was hat er mit ihm gemacht?

Vor Mimis Augen wird es dunkel. Ein Keller. Feuchter, modriger Geruch. Ein schmaler Lichtschacht, durch den fahle Dämmerung auf den Betonboden sickert. Eine schwere Tür, die sich öffnet, eine massige Gestalt: der Mann. Sein Gesicht ist eine dunkle Masse.

Das Grauen kriecht in Mimis Mund. Würmer, die sich winden, sie spürt die schleimigen Leiber auf ihrer Zunge, in ihrem Hals und muss würgen. Der Waldboden unter ihren Füßen dreht sich, hebt sich ihr entgegen, sie fällt nach vorn, auf Hände und Knie. Heftiger Schmerz pocht in ihrem Kopf. Sie meint zu ersticken. Die Würmer ausspucken. Atmen. Ein. Aus.

Sie kauert sich zusammen, macht sich ganz klein. Verstecken. Vielleicht sieht er sie nicht. Wenn es ihr gelingt, mit dem Waldboden zu verschmelzen, wie ein kleines Tier, das sich eingräbt, kaum noch atmet, kaum noch lebt. Nichts mehr spürt, keine Angst, keine Reue, nichts.

„Mimi!“ Die Stimme, die ihren Namen ruft, lässt sie zusammenfahren. Jetzt sind wieder Schritte zu hören, die rasch näherkommen.

„Steh auf!“

Eine harte Hand packt sie, reißt sie hoch. Sie taumelt. Ihre Knie zittern. Die Hand lässt sie los.

Sassmann dreht sie zu sich um. Er ist viel größer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Sie reicht ihm gerade so bis zur Brust. Er tritt einen Schritt zurück. Mimi schaut nicht auf, aber sie spürt, dass er auf sie herabsieht.

Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und geht auf die helle Lichtung zu. Mimi stolpert hinter ihm her.
12
Grill / Re: (KG) Pietà
« Letzter Beitrag von nus am 03 October 2022, 14:04:49 »
@CheFFin:
OK, verstehe. Das greife ich auf.
 :-*
13
Grill / Re: (KG) Pietà
« Letzter Beitrag von FF am 02 October 2022, 22:07:58 »
Ja, auf der Ebene kann ich es dann auch verstehen. Ohne Melissa liegt der Fokus auf der Beziehung zwischen Mann und Hund, ich würde mir dann nur ein bisschen mehr Klarheit in bezug auf die Verletzung wünschen.

Auf jeden Fall danke fürs Einstellen!
14
Grill / Re: (KG) Pietà
« Letzter Beitrag von nus am 02 October 2022, 17:23:54 »
Liebe CheFFin, lieber Uli, lieber Quisi!

Wenn ich Jedem einzeln antworte, schreibe ich mehr oder weniger dreimal das Gleiche, daher hier eine Rückmeldung für Euch drei.
Zuallererst Danke für Eure ausführlichen Feedbacks. Jedes davon hilft mir ein großes Stück weiter (konkret dazu weiter unten)!

Zu dieser Kurzgeschichte ein paar Hintergrundinformationen:

1.
In der letzten Zeit habe ich mich intensiv mit Kunst beschäftigt. Damit, was sie will und kann. Ein "Outcome" daraus ist, dass ich mit dem war ich im Moment schreibe, nicht mehr so viele Leute wie möglich erreichen will. Es wird Leser geben, die sich von meinen Texten angesprochen fühlen, die spüren, dass da etwas für sie drinsteckt, die vielleicht sogar die tieferen Bedeutungsebenen verstehen. Aber es wird auch Leser geben, die meine Texte ratlos zurücklassen.
Trotzdem versuche ich natürlich, das, was mir wichtig ist, deutlich zu machen (und dafür sind Eure Anmerkungen sehr gut, aber dazu weiter unten). Aber nicht (mehr) um jeden Preis. In dem, was ich im Moment schreibe, steckt sehr viel drin, und ich verlange meinem Leser auch etwas ab. Meine Texte sind - wenn überhaupt - nur dann zu verstehen, wenn ein Leser erstens spürt, dass etwas für ihn drinsteckt (s.o.), und wenn er sich zweitens intensiver mit ihnen beschäftigt. Mit "mit ihnen beschäftigen" meine ich nicht, dass man jede einzelne Szene genau anschaut und analysiert, sondern dass man den Text liest, ihn sacken lässt und im Nachgang (immer mal wieder) darüber nachdenkt.
Meine besten Erlebnisse mit der Kunst waren die, in denen ich mich zum Beispiel von einem Bild angesprochen fühlte und mir im späteren Nachdenken darüber plötzlich ein Licht aufging. Dieser Moment der Erkenntnis ist wirklich toll, und er kann sich nicht einstellen, wenn der Künstler die Aussage ganz plakativ darstellt. Darum will ich in den Texten, die ich im Moment schreibe, auch nicht alles expressis verbis beschreiben. Manches wird nur angedeutet, und entweder ein Leser erkennt das und versteht das oder nicht.

Wie gesagt, das heißt NICHT, dass ich mich im Vagen verlieren will wie jemand, der nicht malen kann und nur abstrakten Mist abliefert mit einem Achselzucken: Wer's nicht versteht, ist selbst schuld.

2.
Ich bin im Moment ein wenig vom reinen Geschichtenerzählen um des Geschichtenerzählens willen (was ich lange Zeit sehr gerne gemacht habe) abgekommen. Stattdessen schreibe ich zu Themen, die mich sehr persönlich beschäftigen. In dieser Geschichte geht es um das Thema Schuld. Es geht um das Gefühl, das wir haben, wenn wir jemandem, den wir lieben, etwas angetan haben, ihn verletzt haben. Sich schuldig fühlen ist ambivalent: Einerseits wollen wir das, was wir dem geliebten Wesen angetan haben, wieder gutmachen. Und wenn das de facto nicht geht, dann mit Liebe (dieser Teil ist sehr schwer auszudrücken). Andererseits wollen wir die Schuld von uns weisen, sie uns vom Hals schaffen.

Jetzt konkret zu der Geschichte:

Martys Anwesenheit (der Hund ist ja ständig in unmittelbarer Nähe) führt Gabor seine Schuld immer wieder vor Augen, und er wird zwischen diesen beiden Reaktionen (mit Liebe die Schuld wieder gutmachen und sie sich vom Hals schaffen) permanent hin und her geworfen. Die Schuld mit Liebe wieder gutmachen funktioniert aber nicht. Und da seine Schuld untrennbar mit Marty verbunden ist (die Pfote ist ja dauerhaft verkrüppelt), kann er sie sich nur vom Hals schaffen, indem er sich Marty vom Hals schafft. Das funktioniert aber auch nicht.
Es gibt also für Gabor keinen Exit, der in seiner eigenen Macht steht.

Es gibt nur einen Exit, der außerhalb seiner Handlungsmöglichkeiten liegt. Und hier gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten:
1. Die Vergebung durch den, den wir verletzt haben.
2. Die Vergebung auf spiritueller Ebene.

Die erste Möglichkeit funktioniert nicht ohne die zweite. Denn es geht nicht nur darum, dass der, den wir verletzt haben, uns verzeiht. Es geht auch darum - und das ist vielleicht noch wichtiger - dass wir selbst uns verzeihen.

Was die spirituelle Ebene angeht, verwende ich das Motiv der Pietá. Dieses Motiv ist ungemein vielschichtig. Ich will das jetzt nicht in allen Details aufblättern, nur zwei Aspekte (und nur ganz knapp) skizzieren:
1. Mitleid
Gabor widerfährt die gleiche Verletzung wie Marty. Er leidet also im wahrsten Wortsinn mit.
2. Vergebung
Im christlichen Verständnis hat Jesus die Schuld der Menschen auf sich genommen, und durch seinen Tod verschwindet diese Schuld (sie wird "getilgt", was soviel wie "ausradiert", "gelöscht" bedeutet). Und dies geht sogar so weit: Jesus wird von Menschen getötet, und zugleich tilgt er mit seinem Tod die Schuld der Menschen. So ist es auch hier: Marty wird von Gabor verletzt, und zugleich führt sein Tod dazu, dass er verschwindet, dass Gabor ihn also "loswird" (siehe oben).

Dazu wäre eigentlich noch viel mehr (und viel Ausführlicheres) zu sagen (etwa die Dopplung/Spiegelung des Pietá-Motivs mit dem Madonnen-Motiv), aber das würde hier den Rahmen sprengen. Für mich persönlich ist dieses Motiv sehr, sehr berührend und tröstlich.

Und nun zu Euren Anmerkungen und dem, was ich selbst daraus ziehen kann:
1. Erbsen (klar, die lass ich nicht liegen)
2. Ich werde den Hund umbenennen. Der jetzige Name lenkt vom eigentlich Wichtigen ab.
3. Ich werde die Handlungsteile mit Melissa herausnehmen. Es geht mir allein um Gabor und Marty. Melissa spielt im Grunde gar keine Rolle.
4. Ich werde Gabor "schuldiger" machen, damit man Marty Verletzung nicht als Unfall versteht.
5. Vielleicht arbeite ich noch mehr Aspekte des Pietá-Motivs ein.

Noch mal danke an Euch!
:) nus



15
Grill / Re: (KG) Pietà
« Letzter Beitrag von Quisille am 30 September 2022, 15:37:41 »
Moin!

Den Text strukturell zu rösten, scheint mir nicht angemessen, da er sich in den Sphären der Bedeutungsebene vor meiner Haarspalterei versteckt.

Pfui! Komm raus, Text, und kämpfe wie ein kleines pelziges Wesen von Alpha Centauri, wenn du dich traust! :grinwech:

Also gut, schön, Bedeutungsebene und Interpretation. Aber erst einmal Erbsenlese:

"Marty McFly" ist ein heutzutage vermutlich ziemlich obskures Zitat. Die Verbindung zur Erzählung ist mir nicht klar. Zwar ist die Erzählstruktur teilweise nichtlinear, aber der Bezug zu Zeitreisen wirft mich eher raus.

Zitat
Gabor hebt den Kopf und sieht die Verschlagenheit im Blick des Hundes, die stumme Anklage.

Erschließt sich mir nicht. Ist das Gabors Sicht auf Marty? Warum empfindet Gabor die Anklage des Hundes als "Verschlagenheit"? Der Hund hat ihn doch über seine Schmerzen nie getäuscht oder ein verborgenes Ziel damit verfolgt. Selbst wenn Gabor Melissa oder gar sich selbst auf Marty projiziert, so haben sich doch weder Melissa noch Gabor erkennbar verschlagen verhalten. Außerdem zieht die Symbolsprache des Texts eine Parallele zwischen Marty und Gabor. Wirft sich Gabor selbst Verschlagenheit vor? Aber warum?

Zitat
Gabor schreckt vor der Wärme des kleinen Körpers unter dem Couchtisch zurück. Der Hund hebt den Kopf und sieht ihn an.
“Es war nicht meine Schuld!”
Gabors Stimme klingt schrill, die Stimme eines Lügners.

Erschließt sich mir auch nicht. Es war nicht Gabors Schuld, es war ein Unfall. Projiziert er die Trennung von Melissa auf die Situation? Hat er Melissa wehgetan und rechtfertigt sich jetzt vor dem Hund, vielleicht ohne es zu wissen? Aber die Parallele zwischen Melissa und Marty funktioniert nicht, dazu ist die Parallele zwischen Gabor und Marty zu stark. Sieht sich Gabor jetzt also Marty gegenüber in der Position von Melissa ihmgegenüber? Weil er Marty auf die Terrasse abgeschoben hat? Wenn das aber so ist, und sich Gabor deswegen schuldig fühlt, warum will er Marty dann aussetzen? Bei den vielen Projektionen verliere ich außerdem etwas den Überblick: Gabor projiziert sich auf Marty und Melissa auf sich selbst, später dann Marty auf sich und Melissa auf sein früheres Ich, indem er sich von ihr die Terrassentür auf die Pfote semmeln lässt?

Zitat
Pietà

Ich weiß nicht, ob wir da dieselbe Assoziation haben. Aber bei dem, was sich mir aufdrängt, fällt es mir schwer, die Symbolsprache auf ein konsistentes Bild zu bringen. Was zweifellos passt, ist das Gefühl tiefer Trauer, das ich Gabor durchaus abnehme. Damit hören die Parallelen aber auch schon auf. Marty zeigt keinerlei Opferwillen, sein Tod ist für niemanden mit der Hoffnung auf Besserung verbunden, Gabor sieht sich in der Rolle des Schuldigen, durch Martys Tod wird seine Schuld aber nicht stellvertretend gesühnt. Wenn man sehr weit ausholt, könnte man Gabor in einer Art Mutterrolle für Marty sehen, aber auch da wird es inkonsistent, da die Bildsprache der Pietà Maria in der Rolle unverschuldeten Leidens sieht, Gabor aber sich selbst die Schuld gibt und außerdem seine Schuld dann auch prompt selbst symbolgeladen abbüßt, indem er sich von Melissa mittelbar die Hand einklemmen lässt.

Als Inspiration ist der Bezug zur Pietà durchaus legitim, aber interpretatorisch führt er mich eher auf Irrwege.

Genug der Erbsen, hin zur Interpretation. Sowas mache ich normalerweise nicht, auf Interpretationsebene zu rösten, aber siehe oben, es geht nicht anders. Also bitte damit rechnen, dass hier sehr viel Subjektives zur Sprache kommt.

Was mir erhebliche Probleme bereitet, ist Gabors Motivation. (In den Erbsen klingt es bereits an.) Der Kern der Erzählung besteht darin, dass Gabor seinen Hund aussetzen will, aber dann doch wieder eigentlich nicht. Das deutet auf einen inneren Konflikt hin. Worin besteht der aber genau? Gabor wirkt relativ statisch. Sein Verhalten ändert sich zwar (erst setzt er den Hund aus, dann holt er desse erfrorenen Körper wieder zurück), aber die Änderung des Verhaltens scheint sich mir nicht aus einem erkennbaren Dilemma und dessen Auflösung abzuleiten.

Was will Gabor? Will er, dass Melissa zurückkommt? Warum sollte Marty da ein Hindernis sein? Will er das Trauma der Trennung überwinden? Warum muss er dafür Marty aussetzen? Die Parallele zwischen Marty und Gabor wird ja sehr stark betont. Gibt es eventuell gar keinen Marty? Ist das eine Phantasie, in der Gabor seinen Opferstatus auslebt? Wenn dem so ist, und ganz gleich, ob es Marty wirklich gibt oder er nur ein Phantasiekonstrukt ist: Was lernen wir daraus über Gabor? Will er sein eigenes Schuldgefühl dem Hund gegenüber durch die Phantasie auf Melissa zurückprojizieren? Wird er vielleicht überhaupt nur deshalb schuldig, weil er die Schuld für die Rückprojektion braucht?

Was ist die Aussage des Texts? Melissa ist schuld, dass der Hund tot ist, weil sie Gabor verlassen hat, obwohl der das nicht wollte? Gefährliches Terrain. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich Dir bei einer derartigen These würde folgen wollen. Melissa hat die Beziehung mit Gabor beendet, offenbar weil sie sich von ihm zu sehr bedrängt fühlte. Ihr jetzt die Schuld zuzuweisen an Gabors Instabilität, scheint zumindest fragwürdig. Aber diese Interpretation liegt sehr nahe, denn die Parallelen (Verletzung durch Zurückweisung) sind zwischen Marty und Gabor unverkennbar, und der Erfrierungstod beider in Verbindung mit dem Terrassentürmotiv macht Melissa symbolisch betrachtet zu Gabors Mörderin.

*schluck* :glotz:

Ich bin jetzt wirklich nicht so der Vorzeigefeminist, aber damit hätte sogar ich Probleme. Wenn ich verlassen werde, gibt mir das nicht das Recht zu erfrieren, um es meiner Ex mal so richtig zu zeigen.

Erzählstrategisch bündelt sich dieses Problem an einem einzigen Dreh- und Angepunkt: Gabors Motivation, Marty auszusetzen. Warum will (oder besser: MUSS) er das tun? Ohne weiteren Kommentar wirkt es wie militantes Selbstmitleid und legt die oben skizzierte Interpretation nahe. Wenn ich mit dieser Interpretation danebenliege (wie ich hoffe), bräuchte der Punkt noch etwas Klarstellung.

That being said ...

Sprachlich-stilistisch ist der Text ein Genuss. Tempo, Rhythmus, Staffelung, auch das interessante Spiel mit der nichtlinearen Erzählweise machen das Leseerlebnis kurzweilig, ohne dabei flach zu wirken. Satzstruktur und -komplexität folgen dem Tempo und der emotionalen Färbung der jeweiligen Passage. Hat mir ausnehmend gut gefallen. :cheerful: Emotional ist der Text sehr eindrücklich. Gekonnt!

Liebe Grüße, und vielen Dank für das Röstfutter! :dops:

Quisille
16
Grill / Re: (KG) Pietà
« Letzter Beitrag von Uli am 29 September 2022, 22:58:50 »


nach der Gedächtnis-Auffrischung durch Tante Google: (wg Pietá)

Ähm. Offenbar habe ich etwas wichtiges nicht verstanden. Sorry.
17
Grill / Re: (KG) Pietà
« Letzter Beitrag von Uli am 29 September 2022, 20:54:04 »
ob das alte Ding noch funktioniert? (Röstgabel anstarr) Nun, Versuch macht kluch …

Ay Nus!

Schön, hier mal wieder einen Text zu sehen - und dazu noch eine Kurzgeschichte! Freu!

Vorab die Erbse: Du neigst dazu, den Namen des Protagonisten einen Tick zu oft zu nennen - bei zwei aufeinanderfolgenden Sätzen könnte der zweite ein ˋer´ sein. Sonst war mir beim ersten Lesen nichts aufgefallen, was für die Geschichte spricht.

Also: Gut zu lesen, wenn auch ein wenig … nun, düster? Deprimiert …

Mal sehen ob ich das richtig verstanden habe:

Gabor hatte eine Beziehung, aus der mehr werden sollte (Heirat angedacht, wahrscheinlich), und die Dame hat ihn abserviert. Umgangssprachlich ˋvor die Tür gesetzt ´.
Er hatte eine enge Bindung an der Hund, wahrscheinlich ein ˋgroßer Junge ´, dieser Gabor - dafür spricht der Name des Tiers.
Aber: Als er telefonisch vor die Tür gesetzt wird, macht er das real mit Marty - der dabei zufällig verletzt wird (Rechte Pfote? So wie Marty bei dem Unfall mit dem Rolls Royce? Kann er ihn deshalb nicht mehr beim Namen nennen?)

Jedenfalls rennt Gabor erstmal weg, bevor er sich um den Hund kümmert.

Einige Zeit später hält er das Schuldgefühl (nur wegen des Unfalls?) nicht mehr aus und will Marty wegschaffen: Aussetzen an einer Raststelle, mitten im Winter … doofe Idee, irgendwie, aber ein wenig nachvollziehbar: Die Chance auf ein besseres Leben durch die kleine Chance, von dem (der!) Richtigen gefunden zu werden.

Bei der Aktion erfriert der Hund, und Gabor stürzt völlig ab: Mittelschwer betrunken auf der kalten Terrasse wartet er … worauf?
Ob seine Ex real auftaucht oder das nur ein Traumbild ist, ist wahrscheinlich belanglos - wichtig nir, dass er sich beim Versuch, wieder in die Wohnung zu gelangen, die gleiche Verletzung einfängt wie vorher der Hund - und dann, eben wie dieser, erfriert.

Ok?
Wenn ja: Dann fehlt mir irgendwo … etwas.
Sagen wir mal: Die verpasste Abzweigung. Der Moment, an dem er sich falsch entschieden hat. Vielleicht sogar ein Konflikt zwischen der großen Liebe und dem ˋgroßen Jungen ´, der (Spekulation!) an seinem Hund festgemacht ist?
Kurz: Mir fehlt (oder ich sehe es nicht) ein ˋweil ´ …

Hoffe, das hilft!
cheers, Uli
18
Grill / Re: (KG) Pietà
« Letzter Beitrag von nus am 29 September 2022, 17:39:19 »
Danke, CheFFin, für Dein Feedback (auch wenn es natürlich blöd ist, dass bei Dir nur Fragezeichen ankommen)!
Ich warte mal noch mit Erklärungen. Vielleicht mag ja noch jemand anderes etwas schreiben.
Nur zwei Anmerkungen jetzt schon:
1. Google mal, was eine Pietà ist.
2. Ursprünglich hieß die Geschichte "Schuld", denn genau darum geht es.
 :-* nus
19
Grill / Re: (KG) Pietà
« Letzter Beitrag von FF am 29 September 2022, 17:26:09 »
Ein TEXT! Yay! *leslesles*

...

...


Ok, ich gebe zu, ich verstehe es nicht.

Woran hat sich der Hund verletzt? Warum ist er verletzt nichts mehr wert? Was hat das mit der kaputten Beziehung zu tun? Warum setzt Gabor ihn aus und holt ihn zurück, als er tot ist?

Es ist interessant geschrieben, liest sich gut, an den Formulierungen habe ich nichts zu meckern, aber ich sitze hier und bin ziemlich ratlos. Ich weiß nicht, was mir diese Geschichte sagen will. Pietà heißt Mitleid, aber ich finde da keins, weder bei Gabor noch bei Melissa.
20
Grill / (KG) Pietà
« Letzter Beitrag von nus am 29 September 2022, 09:49:08 »
Hallo, liebe Höllenteufel!
Habt Ihr noch mal Lust zum Rösten? Ich habe eine Kurzgeschichte fertiggestellt, die schon seit über einem Jahr auf ihr Ende wartet. Seinerzeit konnte ich sie nicht zuende schreiben, irgendwie ging das nicht. Aber ich hatte ein Bild im Kopf, das ich dann auch - zugegebenermaßen etwas  dilettantisch - auf Papier gebannt habe, und das hat mir geholfen.
Feuer frei!

Pietà

Die Leine wird er an einem der kahlen Büsche festmachen, die den Blick von der abgewandten Seite des Rastplatzes auf den urinierenden Fernfahrer verstellen.
Gabor versucht das Kratzen der Hundekrallen im Laderaum seines Kombis zu überhören und konzentriert sich stattdessen auf den LKW-Fahrer, der jetzt seine Hose zurechtruckelt, einen Schritt zurücktritt und dann mit schlenkernden Armen zu seinem Truck geht. Der Hund fiept leise. Ein paar Minuten verstreichen. Gabor wartet darauf, dass der LKW-Motor anspringt und der Sattelzug sich in Bewegung setzt, aber abgesehen von einer Krähe, die den Müll im plattgetretenen Gras neben dem Abfalleimer inspiziert, bewegt sich nichts auf dem Rastplatz.
Rascheln im Laderaum, das Fiepen verstummt. Wahrscheinlich hat der Hund sich hingelegt. Gabor sieht ihn vor sich, ein struppiges Fellbündel, nicht größer als ein Netz Kartoffeln aus dem Supermarkt. Eine Vorderpfote ausgestreckt, die andere, verkrüppelte, unter den Körper gezogen. Der LKW-Fahrer. Er muss sich auf den LKW-Faher konzentrieren. Aber er kann keine Regung hinter der hohen Windschutzscheibe erkennen, und der Motor des Sattelzugs bleibt still.
Die Krähe stakst zu der klobigen Holzsitzgruppe. Noch mehr Müll, aber offenbar nichts, was ihr Interesse weckt. Sie stochert eine Weile lustlos darin herum, dann gibt sie es auf und fliegt davon.
Der Hund hat einen Namen: Marty McFly. Ein Vor- und ein Nachname, das ist mehr, als die meisten Mischlingshunde haben. Gabor nennt ihn nicht mehr beim Namen. Wenn er an ihn denkt oder über ihn spricht, dann als “der Hund”. Vor nicht allzu langer Zeit hat er ihn “Marty” gerufen. Das war, als der Hund noch vier gesunde Pfoten hatte.
Der LKW steht immer noch da. Die Scheibe reflektiert den wolkenverhangenen Himmel. Wahrscheinlich macht der Fahrer eine längere Pause. Ein zweiter Sattelzug rollt jetzt auf den Rastplatz. Gabor startet seinen Wagen. Vielleicht geht es woanders leichter. Morgen. Oder übermorgen.
Zu Hause hinkt der Hund sofort zu der Ecke im Flur, wo zuvor sein Futternapf gestanden hat. Gabor geht in die Küche und holt frisches Wasser. Wozu noch einmal Futter kaufen? Bis morgen wird es schon gehen. Er stellt dem Hund das Wasser hin und geht ins Wohnzimmer.
Es dauert nicht lange, bis der Hund ihm nachkommt und sich unter dem Couchtisch zusammenrollt, an Gabors Füße geschmiegt. Gabor spürt seine Wärme und die sanfte, regelmäßige Bewegung seines Atmens. Durch die Glasplatte des Tischs sieht er die schwarzbraune Fellzeichnung. Die Schnauze des Hundes, die auf der gesunden Pfote liegt, ist schwarz-braun gesprenkelt. Als der Hund noch Marty hieß, hatte Gabor es gemocht, wenn die Schnauze sich auffordernd unter seine Hand schob.
***
Gabor kraulte Marty hinter den Ohren. Sein Telefon klingelte. Melissa. Sie rief an, um ihm zu sagen, dass es aus war.
“Was … willst du damit sagen?”, fragte er überflüssigerweise.
“Es ist vorbei, Gabor.”
Als ob sich “aus” mit “vorbei” erklären ließe.
Marty stupste ihn mit seiner Schnauze an.
“Aber wir wollten doch … wir hatten doch geplant …"
“Das geht mir alles zu schnell. Mir ist klar geworden, dass ich das noch nicht will.”
Marty, der hechelnd zu ihm aufsah.
“Wir können uns Zeit lassen, Mel. Dann eben nächstes Jahr. Oder wann auch immer.”
“Nein, ich …"
Es sah aus, als ob Marty ihn anlächeln würde. Gabor öffnete die Terrassentür und schob ihn mit dem Fuß nach draußen.
“Bitte, Mel, lass uns in Ruhe darüber reden.”
“Das würde nichts ändern.”
Gabor ging in die Küche. Seine Knie zitterten. Am Kühlschrank hing ein Foto: Mel und er, lachend, geblendet vom Sonnenlicht.
“Das kann es doch nicht gewesen sein. Nach drei Jahren … Bitte, Mel …"
“Es tut mir leid, Gabor.”
Drei abfallende Töne, dann Stille. Gabor starrte auf den Wasserhahn über der Spüle, auf einen Tropfen, der langsam anschwoll, sich in die Länge zog, zu zittern begann und nach zähen Sekunden in das Spülbecken fiel. Gabor hatte das Gefühl zu ersticken. Er riss das Fenster über der Spüle auf und atmete stockend die feuchte Herbstluft ein.
Ein weiterer Tropfen fiel, und im gleichen Moment schlug die Terrassentür zu, gefolgt von einem hohen, atemlosen Laut. Gabor stürzte zurück ins Wohnzimmer.
Der Hund wand sich winselnd draußen auf den Terrassenfliesen. Gabor konnte nicht sehen, was los war, etwas mit der Pfote, gequetscht? Auf den Fliesen war Blut. Gabor versuchte den Hund festzuhalten, der nach seiner Hand schnappte – verdammt, beruhige dich doch, wenn ich dir helfen soll, und hör bitte, bitte auf mit dem Gejapse, das macht es nur noch schlimmer! Gabor sprang auf, hielt sich die Ohren zu und flüchtete zurück ins Wohnzimmer, in den Flur und schließlich aus dem Haus. Das Winseln verfolgte ihn, er lief weiter, wich den Pfützen auf dem Gehweg aus, verdammt, jetzt fing es auch noch an zu regnen, und er hatte seine Jacke vergessen und nur Hausschuhe an den Füßen, und sein Schlüssel … verdammt!
***
Wie viel Zeit war verstrichen, als der Nachbar, bei dem er seinen Ersatzschlüssel deponiert hatte, endlich auf sein Klingeln reagierte? Gabor war völlig durchnässt und zitterte vor Kälte. Es gelang ihm erst nach vier vergeblichen Versuchen, den Schlüssel ins Haustürschloss zu stecken und ihn umzudrehen.
Das Winseln war verstummt, setzte aber sofort wieder ein, als er die Haustür hinter sich schloss.
***
Gabor schreckt vor der Wärme des kleinen Körpers unter dem Couchtisch zurück. Der Hund hebt den Kopf und sieht ihn an.
“Es war nicht meine Schuld!”
Gabors Stimme klingt schrill, die Stimme eines Lügners. Der Hund drängt sich an seine Beine, bettelt um Nähe und Zärtlichkeit. Gabor wird von einem jähen Schmerz durchdrungen. Er nimmt den Hund auf den Arm, drückt ihn an sich, flüstert ihm ins Ohr:
“Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid.”
Etwas Warmes, Lebendiges füllt die kalte Leere in seiner Brust, und für einen Moment glaubt er der Lüge. Bis die Wahrheit wieder den Nebel des trügerischen Gefühls durchbricht. Gabor hebt den Kopf und sieht die Verschlagenheit im Blick des Hundes, die stumme Anklage. Er lässt den Hund los, stößt ihn von seinem Schoß und steht auf.
***

Ein neuer Versuch. Ein anderer Rastplatz. Es ist noch früh. Nachtfrost überzieht das graue Gras. Gabor steigt aus dem Auto und öffnet die Heckklappe. Mit kältesteifen Fingern befestigt er die Leine am Halsband. Minus zehn Grad hat das Thermometer an der Hauswand gezeigt. Der Hund springt unbeholfen aus dem Auto und hinkt neben Gabor her auf die kahlen Büsche zu. Gabors Schritte knirschen auf dem gefrorenen Gras.
Als er die Leine an einem Ast verknotet, macht der Hund ein Geräusch - kein Bellen, kein Knurren, kein Fiepen, sondern einen fragenden Laut, den Gabor unbeantwortet lässt. Er wendet sich ab und geht über das gefrorene Gras zurück zum Auto.
***
Gabor sitzt in der Küche und wartet darauf, dass sich ein weiterer Tropfen vom Wasserhahn löst und in die Spüle tropft. In diesem zähen, gleichförmigen Rhythmus zerrinnt der Tag. Abends schaltet er den Fernseher an. Er schläft auf dem Sofa ein, wacht weit nach Mitternacht auf und geht zu Bett.
Morgens in der Küche wieder der tropfende Wasserhahn. Gabor zählt die Tropfen, bis die Zahlen ihren Sinn verlieren. Er schreibt “Hundefutter” auf den Einkaufszettel und streicht das Wort wieder durch. Marty drängt sich an seine Beine. Ob ihn jemand gefunden hat, ein LKW-Fahrer oder eine Familie auf dem Heimweg vom Winterurlaub? Gedankenverloren beugt Gabor sich zu ihm hinunter, um ihn hinter den Ohren zu kraulen. Seine Finger greifen ins Leere.
Gabor steht auf. Vielleicht hat jemand den Hund ins Tierheim gebracht … Ich sollte frühstücken, zwingt er sich zu denken. Er öffnet die Tür der Speisekammer. Sein Blick wandert über die Regale. Kein Appetit. Schließlich greift er nach einer Rotweinflasche.
Nach dem zweiten Glas wird er ruhiger. Er setzt sich wieder an den Küchentisch und faltet seine Hände auf der Tischplatte. Marty sitzt neben seinem Stuhl und sieht zu ihm auf. Gabor schaut nicht hin, aber er weiß, dass er da ist. Immer da sein wird.
Er trifft eine Entscheidung. Im Flur nimmt er den Autoschlüssel vom Bord.
***
Marty ist noch da, wo er ihn zurückgelassen hat. Der kleine Körper liegt unbter den kahlen Büschen, zusammengerollt, überzogen mit Rauhreif. Gabor beugt sich über ihn. Die Lefzen sind zurückgezogen und entslößen die Zähne zu einem Lächeln. Gabor hebt den kalten, starren Körper auf und trägt ihn zum Auto.
***
Die zweite Flasche Wein ist fast leer. Gabor schaut zu Marty hinüber, der eine Armlänge von ihm entfernt auf den Terrassenfliesen liegt. Friedlich, als ob er schlafen würde. Der Wein ist herb und kratzt in Gabors Hals, aber das macht ihm nichts aus, ebenso wenig wie die Kälte. Sie ist ihm sonderbar vertraut. Er denkt an den tropfenden Wasserhahn in der Küche. Hier draußen würde das Wasser gefrieren, und das Tropfen würde aufhören. Der Gedanke gefällt ihm: Starre. Stille. Es kommt ihm vor, als ob er endlich am Ziel wäre. Alles ist starr und still. Fühlt es sich so an zu erfrieren? So vollkommen?
Die Türklingel lässt die Stille zersplittern. Gabor schreckt hoch. Er blinzelt, kann nicht klar sehen, der frostbleiche Garten verschwimmt vor seinen Augen. Er versucht, irgendein Detail in den Fokus zu nehmen, den Lebensbaum, die niedrige Mauer am Rand der Böschung, die schmiedeeiserne Gartenbank, aber seine Augen brennen und sein Blick rutscht weg. Es klingelt wieder. Gabors steife Glieder wollen ihm nicht gehorchen. Die Kälte ist überall, sie durchdringt ihn, lähmt ihn, nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Gedanken. Was hatte ihn aufgeschreckt? Was hatte ergewollt? Er ist so müde. So unendlich müde ...
Die Türklingel. Melissa. Auf Knien und Händen bewegt er sich vorwärts. Die Fliesen sind eiskalt und hart, scharfkantig, gnadenlos. Aber Gabor kriecht weiter. Er hört einen Schlüssel im Haustürschloss, Melissa, die seinen Namen ruft. De Terrassentür, die zuschlägt, in dem Augenblick, in dem seine Hand die Türschwelle erreicht.
***
Es tut nicht weh.
Melissa. „Komm rein. Was soll das Theater? Was ist mit deiner Hand?“ Pause. „Du bist betrunken.“
Sie sagt noch mehr, aber Gabor schweigt und rührt sich nicht. Nicht einmal, als sie geht. Nicht einmal, als die Terrassentür ein letztes Mal zuschlägt.
***
Die Weinflasche ist umgefallen. Ein kleines, rotes Rinnsal versiegt neben Gabors ausgestreckten Beinen. Er spürt nichts mehr. Marty ist da. Gabor hält ihn in seinen Armen.
Seiten: 1 [2] 3 4 ... 10